In einer Ära steigender Lebenshaltungskosten und wachsender Ungleichheiten rückt das Thema Mindestlohn auf europäischer Ebene in den Mittelpunkt, nicht mehr nur in den Mitgliedstaaten, sondern als integraler Bestandteil des Arbeits‑ und Sozialrechts der Europäischen Union. Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Richtlinie über „angemessene Mindestlöhne“ ist nun klar: Die EU-Institutionen haben in diesem Bereich Handlungsfähigkeit bewiesen. Dieses Paket markiert einen Wendepunkt und wirft zugleich zentrale Fragen auf: Wie werden Mindestlöhne in den Mitgliedstaaten umgesetzt? Welche Wirkung haben sie auf Arbeits‑, Wirtschafts‑ und Sozialpolitik? Und welche Herausforderungen bleiben offen?
Im Oktober 2022 verabschiedete das EU-Parlament gemeinsam mit dem Rat die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der EU mit dem Ziel die gesetzliche Mindestlöhne sicherzustellen und diese auf einem „angemessenen“ Niveau zu halten und regelmäßig aktualisieren. Die Richtlinie sieht die Beteiligung von Sozialpartnern (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) vor und fördert Tarifverhandlungen. Gleichzeitig enthält sie Kriterien für die Festlegung eines Mindestlohns, etwa Orientierung an Median- oder Durchschnittslöhnen, Kaufkraft, Lebenshaltungskosten oder Produktivität.
Laut Eurofound reicht die Spannweite der monatlichen Mindestlöhne in der EU Anfang 2025 von etwa 2.638 € in Luxemburg bis zu rund 551 € in Bulgarien. Die Richtlinie verlangt keine einheitliche Mindestlohnhöhe, sondern ein „angemessenes“ Niveau, das sozial fair und an die wirtschaftliche Situation angepasst ist. Die Umsetzung bleibt in der Verantwortung der Mitgliedstaaten, wobei die EU Transparenz- und Berichtspflichten vorgibt.
Das Urteil des EuGH im Verfahren C‑19/23 bestätigt, dass die Richtlinie über Mindestlöhne in weiten Teilen gültig ist, jedoch einige Bestimmungen für unwirksam erklärt wurden. Insbesondere darf die EU nicht die Höhe nationaler Mindestlöhne oder einzelne Lohnbestandteile festlegen, diese Entscheidung bleibt den Mitgliedstaaten vorbehalten. Auch die Vorgaben, Mindestlöhne an Kaufkraft, Lebenshaltungskosten oder Lohnverteilung zu koppeln, wurden teilweise aufgehoben. Unberührt bleiben hingegen die Berichtspflichten, die Förderung von Tarifverträgen und die Einbindung der Sozialpartner, die weiterhin verbindlich sind. Nationale Systeme, wie beispielsweise in Deutschland, müssen nicht zwingend auf EU-Referenzwerten wie Median oder Durchschnitt beruhen, erfüllen jedoch weiterhin Mindeststandard- und Transparenzpflichten. Insgesamt verdeutlicht das Urteil das Spannungsfeld zwischen europäischer Harmonisierung und nationaler Zuständigkeit: Die EU kann Impulse setzen und Rahmenbedingungen schaffen, während die konkrete Ausgestaltung der Mindestlohnpolitik in den Händen der Mitgliedstaaten bleibt.
Zentrale Fragen für die Zukunft sind: Wie lässt sich die „Angemessenheit“ von Mindestlöhnen in der Praxis zuverlässig messen, wenn sich wirtschaftliche Lage und Lebenshaltungskosten stark unterscheiden? Nationale Besonderheiten, etwa eine ausgeprägte Tarifautonomie oder große informelle Arbeitsmärkte, erschweren die Umsetzung zusätzlich. Für Länder ohne gesetzliche Mindestlöhne – darunter Dänemark, Schweden, Finnland oder Italien – stellt sich die Frage, wie sie den europäischen Rahmen sinnvoll in ihre Systeme integrieren können. Hinzu kommt die Notwendigkeit, ein Gleichgewicht zwischen sozialem Schutz, Beschäftigungssicherung und wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit zu finden.