Wer kann wie tätig werden, wenn Mitgliedstaaten sich nicht an Regeln und Gesetze halten? Ein Überblick über Möglichkeiten und Verfahren
In letzter Zeit häufen sich die Nachrichten über Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die sich mit Unionsrechtsverstößen einzelner Mitgliedstaaten befassen. So stehen insbesondere Polen und Ungarn vermehrt wegen ihrer Gesetzgebung im Fokus der EuGH- Rechtsprechung[2]. Besonders nennenswert ist der Beschluss des EuGH[3] aus dem Oktober dieses Jahres, der Polen zu der Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Millionen Euro für jeden weiteren Tag verpflichtet, an dem die umstrittene Disziplinarkammer weiterhin als Teil der Justiz fungiert. Die Reformierung des Justizsystems verstößt nach dem EuGH gegen das in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) verankerte Rechtsstaatsprinzip und damit gegen höherrangiges Unionsrecht. Polen weigert sich zur Akzeptanz des Beschlusses und ist der Auffassung, der EuGH überschreite seine durch die Verträge verliehene Kompetenz.[4] Eingeleitet wurde das obige Verfahren durch die Europäische Kommission. Diese war von der Unionsrechtswidrigkeit der Justizreform überzeugt und machte dies vor dem EuGH geltend.
Anlässlich dieser Konflikte befasst sich der folgende Beitrag mit einem Überblick der möglichen Verfahren zur Geltendmachung von Unionsrechtsverstößen durch einen Mitgliedstaat. Behandelt werden dabei die Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 und Art. 259 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie die Möglichkeit der Befassung des Gerichtshofs der europäischen Union durch den/die einzelne Unionsbürger*in.
Im Regelfall erfolgt die Anrufung des EuGH wie im obigen Fall durch die Europäische Kommission. Diese ist zur Einleitung des sogenannten Vertragsverletzungsverfahrens berechtigt, nachdem sie eine begründete Stellungnahme abgegeben und den Mitgliedstaat angehört hat, Art. 258 Unterabsatz 1 und 2 AEUV. Diese Voraussetzungen dienen der Prozessökonomie. So ist die Befassung des Gerichtshofs überflüssig, wenn die Differenzen durch einen vorgeschalteten Dialog beseitigt werden können. Der EuGH entscheidet sodann über den Unionsrechtsverstoß und mögliche Sanktionen, wobei die Entscheidung für die Mitgliedstaaten verbindlich wirkt, gemäß Art. 260 Abs. 1 AEUV.
Das Verfahren stellt ein wichtiges Instrument bei der Durchsetzung der Verträge dar. Als „Hüterin der Verträge“[5] nimmt die Kommission neben den Mitgliedstaaten die Rolle einer objektiven Institution ein und trägt durch die Geltendmachung von Unionsrechtsverstößen entscheidend zu Wahrung der einheitlichen Umsetzung des Unionsrechts bei. Die Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission bilden die Basis für die Verfahren vor dem Gerichtshof. Im Jahr 2020 kam es zu 903 Verfahren durch die Kommission.[6]
Das Vertragsverletzungsverfahren kann auch durch einen Mitgliedstaat eingeleitet werden. Bei diesem Verfahren klagt ein Mitgliedstaat einen anderen an, weswegen dieses Verfahren auch als „Staatenklage“ bezeichnet wird.
Diese ist gesetzlich zwar direkt hinter dem Verfahren durch die Kommission geregelt, nämlich in Art. 259 AEUV. In der Praxis stellt sie neben dem Vertragsverletzungsverfahren durch die Kommission jedoch den Ausnahmefall dar. Grund hierfür ist das damit einhergehende Konfliktpotential. Denn während die europäische Integration von der mitgliedstaatlichen Einigung auf gemeinsame Werte, Ziele und das Gefühl der Verbundenheit und Solidarität lebt, bürgt die Staatenklage das Risiko, das Gemeinschaftsgefühl zu schwächen.
Ein jüngstes Beispiel für die Staatenklage ist das Verfahren Tschechiens gegen Polen, bei dem Tschechien Polen wegen des an der Grenze zu Tschechien und Deutschland liegenden Tagebaus Turow vor dem EuGH anklagte.[7]
Das mitgliedstaatliche Vertragsverletzungsverfahren setzt im Regelfall ebenfalls die Einbeziehung der Kommission voraus, Art. 259 Unterabsatz 2 und 3 AEUV. Denn wiederum ist aus prozessökonomischen Gründen eine Befassung des Gerichtshofs zu vermeiden, wenn eine außergerichtliche Einigung möglich ist. Als „Hüterin der Verträge“ nimmt die Kommission hierbei wiederum ein zu den Mitgliedstaaten verobjektivierte Gremium ein, welches eine begründete Stellungnahme abzugeben und den Mitgliedstaat anzuhören hat. Lediglich wenn die Kommission dies nicht tut, kann der Mitgliedstaat direkt vor dem EuGH klagen, Art. 259 Unterabsatz 4 AEUV.
Auch wenn die Staatenklage vergleichsweise selten vorkommt, bildet sie dennoch eine wichtige Komponente in der Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, wie das Beispiel um den Streit des Tagebaus Turow zeigt. Im Rahmen dessen streiten die Parteien über die Einhaltung von umweltrechtlichen Vorschriften.[8] Dies wiederum zeigt beispielhaft die Notwendigkeit grenzüberschreitender Regelungen und Einhaltungsmechanismen bei globalen Themen wie dem Klimawandel.
Nun stellt sich die Frage, ob auch der/die einzelne Unionsbürger*in Unionsrechtsverstöße durch einen Mitgliedstaat vor dem Gerichtshof geltend machen kann.
Die Klage gegen einen anderen Mitgliedstaat steht der/dem Einzelnen nach Unionsrecht nicht zu. Gegen das in Ungarn erlassene Gesetz, welches Hilfestellungen bei Asylanträgen unter Strafe stellt und welches damit nach dem EuGH gegen Unionsrecht verstößt[9], kann etwa ein deutscher Unionsbürger/eine deutsche Unionsbürgerin nicht ohne weiteren Bezug eine Klage vor dem Gerichtshof erheben.
Auch die Anklage des eigenen Mitgliedsstaats vor dem Gerichtshof ist in den Verträgen nicht vorgesehen. Mit der sogenannten Nichtigkeitsklage gemäß Art. 263 AEUV, die gemäß Art. 263 Unterabsatz 3 AEUV auch dem/der einzelnen Unionsbürger*in zusteht, gibt es zwar ein Klagverfahren zum Gericht der Europäischen Union (EuG)[10]. Dieses umfasst jedoch nur die Überprüfung des Handelns der EU-Organe, nicht hingegen das der Mitgliedstaaten.
Nach deutschem Verfassungsrecht besteht jedoch unter bestimmten Voraussetzungen mittelbar für den/die Einzelne die Möglichkeit, eine Entscheidung des EuGH zu erwirken. Der Weg führt hierbei über die Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht. Diese kann gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a Grundgesetz (GG) in Verbindung mit § 90 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (BVerfGG) von dem/der Einzelnen erhoben werden und sowohl auf den Verstoß gegen Grundrechte als auch gegen grundrechtsgleiche Rechte gestützt werden. Zu letzteren gehört auch das Recht auf den gesetzlichen Richter, gemäß Art. 101 Abs.1 Satz 2 GG, wozu unter bestimmten Voraussetzungen neben der deutschen Gerichtsbarkeit auch der EuGH gehört. Die Entziehung des EuGH als gesetzlichen Richter erfolgt dabei durch die Nichtvorlage einer Auslegungsfrage über unionsrechtliche Vorschriften vor dem EuGH durch ein deutsches Gericht.
Dieses Verfahren zur Vorlage von Auslegungsfragen nennt sich Vorabentscheidungsverfahren und ist in Art. 267 AEUV geregelt. Es stellt ein Verfahren auf Unionsebene dar und dient dazu, eine homogene Anwendung des Unionsrechts zu gewährleisten. Die nationalen Gerichte sind im Rahmen dessen berechtigt, dem EuGH bei Fragen über die Auslegung des Unionsrechts, die entsprechende Auslegungsfrage vorzulegen, Art. 267 Unterabsatz 2 AEUV. Ist mit der Vorlagefrage ein letztinstanzliches Gericht befasst, so ist dieses gemäß Art. 267 Unterabsatz 3 AEUV sogar verpflichtet, die Frage dem EuGH vorzulegen. Die Verpflichtung entfällt nur dann, wenn die Sache nicht entscheidungserheblich ist, die betroffene Bestimmung bereits Gegenstand einer Auslegung durch den EuGH war oder die richtige Anwendung des Unionsrechts derart offenkundig ist, dass für vernünftige Zweifel keinerlei Raum bleibt.[11] Sofern keine dieser Ausnahmen greift, ist die einheitliche Umsetzung des Unionsrechts gefährdet und der Mitgliedstaat verpflichtet, dem EuGH die Vorlegungsfrage zu stellen.
Wird diese Vorlage von dem nationalen Gericht nicht vorgenommen, obwohl dadurch erkennbar die Auslegung des EuGH vereitelt wird[12], so kann darin ein Verstoß gegen das Recht auf den gesetzlichen Richter bestehen, den der/die Einzelne vor dem Bundesverfassungsgericht als Verfassungsbeschwerde rügen kann.
Die Überprüfung durch den EuGH stellt ein wichtiges Instrument bei der Umsetzung und Einhaltung des Unionsrechts dar und trägt damit entscheidend zu dem Integrationsprozess bei.
Die Menge an Verfahren zeigt, dass die einheitliche Umsetzung und Wahrung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten nicht ohne Weiteres konstant gesichert ist. Dies ist nicht wunderlich, denn bei 27 Akteure ist es unumgänglich, dass unterschiedliche Auslegungen und Ansichten zu dem geltenden Recht vertreten werden.
Zudem unterliegen die Staaten einem stetigen Wandel, im Rahmen dessen ebenfalls die Rechtsprechung des Gerichtshofs von großer Bedeutung ist. Es verändern sich Umstände wie die politische Ausrichtung der einzelnen Mitgliedstaaten, die Kooperationsfreudigkeit der Regierungen, die Stimmung in der Bevölkerung, bis hin zu Veränderungen in den Grundwerten der freiheitlich demokratischen Grundordnungen. Die Justizreform Polens und die damit einhergehenden Meinungsverschiedenheiten zeigen, dass die Werte, die wir oft für selbstverständlich erachten, wie die Gewähr von Rechtsstaatlichkeit mit der Ausprägung einer unabhängigen Justiz, schwinden können. Hierfür bildet das durch den Gerichtshof verbindlich festgestellte Unionsrecht eine entscheidende Grenze, die insbesondere den/die einzelne Unionsbürger*in bei der Schaffung und Erhaltung gleichwertiger Lebensverhältnisse schützt. Ihre untergeordnete Rolle bei den Verfahren vor dem Gerichtshof wird durch die im Unionsrecht vorausgesetzte Staatsform der Demokratie und den Grundwerten der Rechtsstaatlichkeit, Freiheit und Gleichheit (Art. 2 EUV) legitimiert.
Zukünftig lässt sich hoffen, dass die Rechtsprechung des Gerichtshofs von den Mitgliedstaaten umfassend anerkannt bleibt und sich einzelne Mitgliedstaaten nicht in eine Richtung entwickeln, die den freiheitlich demokratischen Grundwerten entgegensteht. Dies würde einen großen Rückschritt der europäischen Integration bedeuten, die seit der Gründung der Gemeinschaft im Jahr 1952 weit gekommen ist.
[2] U.a.: Rs. C-821/19 (KOM./.Ungarn); Rs. C-808/18 (KOM./.Ungarn); Rs. C-121/21R (Tschechien./.Polen).
[3] Beschluss vom 27.10.2021, Rs. C-204/21.
[4] https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c20421r-polen-zwangsgeld-eu-diziplinarkammer/
(25.11.21).
[5] https://www.bpb.de/internationales/europa/europaeische-union/42952/europaeische-kommission (29.11.21).
[6] https://www.juris.de/jportal/portal/page/homerl.psml?nid=jnachr-JUNA210702788&cmsuri=%2Fjuris%2Fde%2Fnachrichten%2Fzeigenachricht.jsp (26.11.21.).
[7] EuGH, Urteil vom 20. September 2021- Rs. C-121/21R.
[8] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/polen-tagebau-turow-schliessung-101.html (29.11.21).
[9] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ungarn-eugh-gesetz-asyl-101.html (29.11.21); https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/eugh-c821-19-ungarn-stop-soros-gesetz-asyl-migartion-fluechtlinge-ngos-unionsrechtswidrig/ (29.11.21.).
[10] Gemäß Art. 256 Abs.1 Satz 1 AEUV ist das Verfahren des/der Einzelnen vor dem Gericht der Europäischen Union (EuG) anhängig.
[11]https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2017/10/rk20171006_2bvr098716.html (27.11.21).
[12] Ein Beispiel hierfür ist das Verfahren BVerfGE 75, 223, abrufbar:https://www.servat.unibe.ch/tools/DfrInfo?Command=ShowPrintText&Name=bv075223 (29.11.21).