Zur rationalen (Nicht-)Teilnahme

Kann die Rational-Choice-Theorie die individuelle Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 erklären?

16.11.2022

Eine Bachelorarbeit, die von unserem ehemaligen Praktikanten Tillmann Iwersen im Bachelorstudiengang „Politikwissenschaft“ der Universität Hamburg verfasst wurde.

Einleitung

Lohnt sich das? So könnte die Frage gelautet haben, die sich die mehr als 400 Millionen wahlberechtigten Bürger*innen der Europäischen Union (EU) im Mai 2019 stell­ten, als sie dazu aufgerufen waren, ein neues Europaparlament zu wählen. Etwas mehr als die Hälfte fand auf diese Frage scheinbar eine befriedigende Antwort und nahm ihr Wahlrecht in Anspruch. Indes verzichtete etwas weniger als die andere Hälfte auf ihre Stimmabgabe. Und während aus einer normativen Perspektive ge­fragt werden könnte, woran es liegt, dass sich eine solch beträchtliche Anzahl an Menschen ihrer Stimme enthält (schließlich sind Wahlen für viele Bürger*innen eine, wenn nicht sogar die beste Möglichkeit der politischen Teilhabe), so scheint die Theorie der rationalen Entscheidung, besser bekannt als Rational-Choice-Theorie (RCT), den Abstinenzler*innen durchaus Verständnis entgegenzubringen. In Hin­blick auf die vielen Millionen von Wahlberechtigten und der dadurch minimalen Wahrscheinlichkeit, mit der eigenen Stimme die Wahl entscheidend zu beeinflus­sen, sieht die Rational-Choice-Theorie das Rätsel der Wahlbeteiligung nicht in der Frage, weshalb sich Personen nicht an Wahlen beteiligen; für sie scheint vielmehr von Interesse, warum so viele Menschen überhaupt ihre Stimme abgeben.

In den circa 65 Jahren, nachdem Anthony Downs in seinem An Economic Theory of Political Action in a Democracy (Downs 1957a) den Grundstein für die ökonomi­sche Betrachtung von Wahlverhalten legte, wurde der Rational-Choice-An­satz vielfältig theoretisch diskutiert, weiterentwickelt und empirisch geprüft. Trotz (oder vielleicht auch gerade wegen) der großen akademischen Aufmerksamkeit, die der Theorie zuteilwird, ist ein Konsens in der Literatur darüber, ob die Erklärung der Wahlbeteiligung als Schwäche der Rational-Choice-Theorie zu betrachten ist oder ob diese in der Lage ist, das individuelle Teilnahmeverhalten plausibel zu erklären, noch nicht gefunden worden.             
Ohnehin scheinen Verhalten und Charakteristika von Nichtwähler*innen die For­schung noch immer vor Rätsel zu stellen. So sehr, dass Jürgen Falter und Siegfried Schumann diese Personengruppe in einem Artikel von 1994 gar als unbekannte Wesen titulierten (vgl. Falter und Schumann 1994). Eine Bezeichnung, die, sofern es nach Martin Althoff geht, auch 25 Jahre später noch immer ihre Berechtigung hat (vgl. Althoff 2020).       
Im Kontext der Wahlen zum Europäischen Parlament herrscht indes Einigkeit dar­über, dass man es hier mit einer Wahl zweiter Ordnung zu tun hat, bei der schlicht­weg nicht genug auf dem Spiel stünde, um einen Großteil der Wahlberechtigten an die Wahlurnen (oder Briefkästen) zu treiben. Obgleich der Aussagekraft dieser The­orie, gerät die individuelle Betrachtungsweise der Wahlteilnahme bei den Europa­wahlen hierdurch etwas in den Hintergrund.    
Diese Arbeit macht es sich deshalb zur Aufgabe, das unbekannte Wesen auf euro­päischer Ebene besser kennenzulernen. Im Speziellen soll hierbei die Frage beant­wortet werden, ob Bürger*innen, wie oben impliziert, tatsächlich in Kategorien von Kosten und Nutzen ihre Wahlteilnahme abwägen. Aus diesem Grund wird sich der Rational-Choice-Theorie angenommen. Dadurch soll ein Beitrag zu der Frage ge­leistet werden, wie geeignet die Theorie der rationalen Entscheidung ist, um das individuelle Teilnahmeverhalten von Wahlberechtigten zu erklären. Die Forschungs­frage dieser Arbeit lautet deshalb: Kann die Rational-Choice-Theorie die individuelle Wahlbeteiligung bei der Europawahl 2019 erklären?         

Um dieser Frage nachzugehen, wird zu Beginn der Stand der Forschung dargelegt. Da der Fokus dieser Arbeit primär auf der Theorie des rationalen Handelns liegt, soll in diesem Abschnitt aufgezeigt werden, auf welchem Stand sich die Literatur bezüglich der Frage befindet, wie geeignet die Rational-Choice-Theorie ist, das Teil­nahmeverhalten von Personen bei Wahlen zu erklären. Aufgrund der Betrachtung der Wahlen zum Europäischen Parlament wird ebenfalls kurz darauf eingegangen, wie es um den Stand der Forschung in Bezug auf die Erklärung der Wahlbeteiligung bei Europawahlen gestellt ist.     
Hierauf folgt die Darstellung des theoretischen Hintergrundes. Dabei wird anfänglich in den Ursprung der Rational-Choice-Theorie in Bezug auf das individuelle Teilnahmeverhalten bei Wahlen eingeführt. Anschließend werden die darauf auf­bauenden Nutzen- und Kostenfaktoren beleuchtet. Auf deren Grundlage werden Hypothesen darüber aufgestellt, wie sich Personen bezüglich der Frage ihrer Wahl­teilnahme entscheiden, wenn sie gemäß den theoretischen Überlegungen der Rational-Choice-Theorie handeln würden.            
Um die Hypothesen zu prüfen, wird im nachfolgenden Abschnitt die Nachwahlum­frage des Eurobarometers herangezogen, die kurz nach der Europawahl durchge­führt wurde. In diesem Abschnitt werden der Datensatz sowie das statistische Vor­gehen vorge­stellt. Es folgt die Operationalisierung der aufgestellten Konzepte bzw. Hypothesen sowie die Durchführung etwaiger Anpassungen, die vor den eigentlichen quantitativen Analyseverfahren vorgenommen werden. Die in dem Datensatz vor­handenen Angaben zu Einstellungen und Verhaltensweisen von Personen dienen anschließend dazu, die aufgestellten Hypothesen zuerst bivariat und anschließend multivariat zu prüfen.      
Die gewonnenen Erkenntnisse werden als Ergebnisse der Arbeit vorgestellt, ehe sie anschließend diskutiert werden. Hierfür werden die Resultate der Untersuchungen dahingehend interpretiert, ob sie die Hypothesen stützen oder die erwarteten Zusammenhänge nicht beobachtet werden konnten. Bestätigen sich die Hypothesen, würde geschlussfolgert, dass die Rational-Choice-Theorie in der Lage ist, die individuelle Wahlteilnahme bei der Europawahl 2019 zu erklären und die Forschungsfrage könnte bejaht werden. Im Diskussionsteil erfolgt außerdem die Einordnung der Ergebnisse in Hinblick auf vorherige Publikationen sowie eine Evaluierung etwaiger Probleme, die während der Arbeit aufgetreten sein könnten. Ebenso werden Empfehlungen für weiterführende Untersuchungen abgegeben, die auf dieser Arbeit aufbauen könnten.      
Abschließend werden die Ergebnisse resümiert, indem das Vorgehen, die Ergeb­nisse sowie die Diskussion kurz zusammengefasst werden.

Information

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