Was bedeutet das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit in der europäischen Gemeinschaft? Inwiefern ist es in der Verträgen der Union festgeschrieben und was kann gegen Verstöße dagegen unternommen werden?
„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemeinsam, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“
Dies ist der Maßstab, den sich die Europäische Union in Art. 2 EUV des Lissaboner Vertrages von 2009 aufgestellt hat und den es zu wahren gilt. Insbesondere in Bezug auf die Rechtsstaatlichkeit gab es in den vergangenen Jahren jedoch Verwerfungen in mehreren Mitgliedsstaaten, die zu viel beachteten Entscheidungen des Europäischen Gerichtshof[1] und lautstarker Kritik aus der Europäischen Kommission[2] geführt haben. Insbesondere das in Ungarn von der Fidesz-Partei unter Viktor Orbán verfolgte Modell einer „illiberalen Demokratie“[3] und die Entwicklungen in Polen unter der von der PiS-Partei getragenen Regierung[4] stehen dabei im Fokus, aber auch die Korruption in einigen Mitgliedstaaten ziehen die Wahrung der Rechtsstaatlichkeit in den Zweifel.[5]
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen wird im Folgenden das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip und die damit einhergehenden Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit in den Mitgliedstaaten untersucht. Dabei soll zunächst dargestellt werden, inwiefern dies im Unionsrecht verankert ist (I.), welche genauen Vorgaben es enthält (II.) und die Möglichkeit der konkreten Durchsetzung in den Mitgliedsstaaten (III.).
In den ersten Verträgen der Europäischen Gemeinschaften war ein gesetzlich verankertes Rechtsstaatsprinzip zunächst nicht vorgesehen. Einen ersten Verweis auf die Rechtsstaatlichkeit als fundamentales Prinzip enthielt die Präambel des Vertrages von Maastricht aus dem Jahre 1992. Im 1997 kodifizierten Vertrag von Amsterdam wurde die Rechtsstaatlichkeit sodann erstmals als Grundsatz verankert. Wie bereits in der Einleitung zitiert enthält der Vertrag der Europäischen Union nunmehr in Art. 2 die Rechtsstaatlichkeit als Wert, auf den sich die Union gründet und der allen Mitgliedsstaaten gemein ist bzw. sein soll. Unmittelbare tatsächliche sowie rechtliche Relevanz gewinnt der Begriff zusätzlich im Rahmen von Art. 49 EUV, der die Achtung von den in Art. 2 EUV genannten Werten – und damit auch der Rechtsstaatlichkeit – als zwingende Voraussetzung für den Beitritt zur EU normiert. Einen weiteren Anknüpfungspunkt stellt Art. 7 EUV dar, der ein Sanktionsverfahren gegen Mitgliedsstaaten ermöglicht, die die fundamentalen Werte des Art. 2 EUV nicht wahren. Es lässt sich vor diesem Hintergrund durchaus statuieren, dass das Rechtsstaatsprinzip eine hervorgehobene Stellung in dem unionsverfassungsrechtlichen Kontext einnimmt. Das Rechtsstaatsprinzip dient als rechtlicher Maßstab aufgrund seiner Unbestimmtheit jedoch nur als Auslegungs- und Verständnishilfe und bedarf daher der Konkretisierung im Einzelfall.[6]
Eine besondere Ausprägung des Rechtsstaatsprinzip stellt die Rechtsschutzgarantie des Art. 47 II GRCh dar[7], der jedem Unionsbürger den Rechtsweg zu einem unparteiischen, unabhängigen und auf gesetzlicher Grundlage errichteten Gericht garantiert. Daneben schreibt es ein faires und öffentliches Verfahren vor, bei dem jedem Bürger zudem die Beratung, Verteidigung und Vertretung gewährleistet wird. Artikel 47 GRCh enthält damit nicht nur eine Rechtsschutzgarantie für den Bürger, sondern schreibt daneben die Unabhängigkeit der Gerichte als institutionelle Pflicht vor, die ein subjektives Recht für den Einzelnen begründet.[8]
Auch Art. 19 I UAbs. 2 EUV wird von dem EuGH als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzip aus Art. 2 EUV verstanden.[9] Die Vorschrift verpflichtet die Mitgliedsstaaten, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit wirksamer Rechtsschutz in dem von dem Unionsrecht umfassten Bereich gewährleistet wird. Hiermit kommt die Dezentralität des unionsrechtlichen Rechtsschutzsystems zum Ausdruck, indem die Unionsgerichte und die mitgliedstaatlichen Gerichte gemeinsam die rechtsprechende Gewalt ausüben und Rechtsschutz gewähren.[10]
Soweit die konkret kodifizierten Vorgaben des Unionsrechts hinsichtlich des Rechtsstaatsprinzip somit abgesteckt sind, stellt sich die Frage, welche inhaltlichen Vorgaben sich dem unionsverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip entnehmen lassen und was dies für die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit der Mitgliedsstaaten bedeuten.
Indem das Unionsverfassungsrecht in Art. 2 EUV die Rechtsstaatlichkeit zu einem ihrer Grundwerte macht, greift es ein zentrales Prinzip des liberalen Verfassungsstaats auf. Hierbei liegt es nahe, dass das unionsrechtliche Verständnis nicht deckungsgleich mit dem jeweiligen Gehalt des mitgliedsstaatlichen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit ist. Dies liegt schon daran, dass auch zwischen den Mitgliedsstaaten Abweichungen bestehen. Da die Rechtsstaatlichkeit jedoch originär den nationalen Verfassungsordnungen entspringt, ist die Annahme begründet, dass auch das unionsverfassungsrechtliche Verständnis den Kerngehalt verfassungsrechtlicher Rechtsstaatlichkeit in sich aufnimmt.[11] Die Auslegung des unionsverfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzips hat daher im Lichte des nationalen Verfassungsverständnisses zu erfolgen.
Als wesentliche Rechtsstaatsideen sind daher die Bindung allen hoheitlichen Handelns ans Gesetz (vgl. Art. 4 III EUV für die Mitgliedsstaaten), der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, die Gewaltenteilung und die Garantie effektiven Rechtsschutzes (s.o.) auf die Unionsebene zu übertragen.
Das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip und damit auch die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit binden im Grundsatz sowohl die EU als auch die Mitgliedsstaaten. Es soll im Folgenden untersucht werden, wie weit diese Bindung reicht und wie die Wahrung der Prinzipien im Einzelnen durchgesetzt werden kann.
Die wesentliche Norm ist in diesem Zusammenhang zunächst der Art. 49 EUV. Dieser erklärt die Achtung und den Einsatz für die Förderung der Werte der Union zum materiellen und entscheidenden Kriterium für den Beitritt eines Staates zur EU. Diese Vorgaben werden weiter durch die vom Europäischen Rat beschlossenen „Kopenhagener Kriterien“ konkretisiert, wonach ein Beitrittskandidat eine hinreichende institutionelle Stabilität als Garantie für demokratische und rechtsstaatliche Ordnung aufweisen muss.[12]
Soweit ein Staat der EU erfolgreich beigetreten ist, entfaltet das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip insbesondere im Hinblick auf die Judikative seine Wirkung: Das Rechtsstaatsprinzip verlangt, über seine Konkretisierungen in Art. 19 I UAbs. 2 EUV und Art. 47 II GRCh, dass Rechtsschutz von den Mitgliedstaaten nicht nur effektiv, sondern auch durch unabhängige Gerichte gewährleistet wird. Darüber hinaus strahlen die Vorgaben aus Art. 2 EUV ganz generell in die mitgliedsstaatliche Rechtsordnung hinein und sollen – so die Vorstellung – die Gesetzgebung und Rechtsprechung im Hinblick auf die Grundwerte der Europäischen Union beeinflussen und beschränken.[13]
Die insofern geltenden Anforderungen an die Unabhängigkeit der Gerichte ist zuletzt mit Blick auf die polnische Justizreform in den Fokus geraten. Die hierbei beschlossenen Regelungen über das Ruhestandsalter von Richterinnen und Richtern unterschiedlicher Gerichte, die erkennbar von der Motivation getragen waren, unliebsame Amtswalter durch politisch opportune Personen zu besetzen, hat der EuGH für mit der unionsrechtlich garantierten richterlichen Unabhängigkeit unvereinbar erklärt.[14]
Soweit nunmehr dargelegt wurde, dass die EU-Verträge die Mitgliedsstaaten zur Einhaltung und Förderung rechtsstaatlicher Grundsätze verpflichten und was diese Grundsätze konkret verlangen, sollen im Folgenden die Mechanismen zur Durchsetzung und Gewährleistung dieser untersucht werden.
Soweit schwerwiegende Verletzungen der in Art. 2 EUV genannten Werte durch die Mitgliedsstaaten zu besorgen sind, besteht nach Art. 7 EUV die Möglichkeit der Durchführung eines Sanktionsverfahrens. Dieses Verfahren wird vom Europäischen Rat durchgeführt und kann zum einen die bloße Feststellung der Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der Grundwerte zum Gegenstand haben. Artikel 7 II, III EUV sieht jedoch – für den Fall einer schwerwiegenden und anhaltenden Verletzung – die Möglichkeit von Sanktionen gegen den betreffenden Mitgliedsstaat vor (sog. Suspendierungsverfahren). Diese Sanktionen können unter anderem zum Gegenstand haben, dass die Rechte des Mitgliedsstaates einschließlich des Stimmrechts im Europäischen Rat einstweilen ausgesetzt werden. Da das Verfahren jedoch politischer Natur ist und nicht von den Europäischen Gerichten durchgeführt wird, beinhaltet die Feststellung einer Gefahr im Sinne von Art. 7 EUV hohe Hürden, wie beispielsweise eine 4/5 Mehrheit im Rat. Zwar wurden 2017 gegen Polen und 2018 gegen Ungarn entsprechende Verfahren eingeleitet, allerdings scheint es derzeit unwahrscheinlich, dass diese mit Sanktionen enden werden.
Bedeutender und effektiver ist das Vertragsverletzungsverfahren nach Art. 258 AEUV. Dieses Verfahren wird typischerweise von der Europäischen Kommission eingeleitet und hat die Verstöße eines Mitgliedsstaates gegen unionsrechtliche Pflichten zum Gegenstand. Auch in diesem Verfahren kann die Verletzung der wesentlichen Grundwerte der EU aus Art. 2 EUV gerügt werden.[15] Die Kommission hat in den Verfahren gegen Ungarn und Polen jedoch die Verletzung konkreterer Vorschriften wie insbesondere Art. 47 II GRCh oder Art. 19 I UAbs. 2 EUV geltend gemacht. Das Verfahren bietet dabei auch Raum, um systematische Rechtsstaatsdefizite der Mitgliedsstaaten zu thematisieren.[16] Den Abschluss des Verfahrens bildet die rechtliche verbindliche Feststellung der Vertragsverletzung durch den EuGH, die der Mitgliedsstaat befolgen muss, Art. 260 I AEUV. Soweit dies nicht geschieht, kann der EuGH auf Antrag der Kommission finanzielle Sanktionen gegen den Mitgliedsstaat verhängen, Art. 260 II AEUV.
Eine ganz aktuelle Entwicklung ist die Einführung des sog. Konditionalitätsmechanismus: Dieser bezweckt, dass Zahlungen aus dem EU-Haushalt an einzelne Mitgliedsstaaten verweigert werden können, wenn diese gegen den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit verstoßen haben. Der am 01.01.2021 in Kraft getretene Art. 4 I VO 2020/2092 sieht als Voraussetzung für entsprechende Maßnahmen vor, dass Verstöße gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit in einem Mitgliedstaat die wirtschaftliche Führung des Haushalts der Union oder den Schutz ihrer finanziellen Interessen hinreichend unmittelbar beeinträchtigen oder ernsthaft zu beeinträchtigen drohen. Gegen diese Verordnung haben Polen und Ungarn im März 2021 Nichtigkeitsklage (Art. 263 AEUV) eingelegt. Das Europäische Parlament hat daraufhin eine Resolution verabschiedet, mit der es die Kommission zum Handeln auf der Grundlage von VO 2020/2092 auffordert und für den Fall der Untätigkeit der Kommission ein gerichtliches Vorgehen gegen die Kommission nach Art. 265 AEUV in Aussicht stellt.[17]
Das unionsverfassungsrechtliche Rechtsstaatsprinzip und mit ihm die Anforderungen an die Rechtsstaatlichkeit in den einzelnen Mitgliedsstaaten werden in den kommenden Jahren vermehrt in den Mittelpunkt der politischen Diskussion rücken. Die aktuellen Entwicklungen in Polen und Ungarn dürften hier erst der Anfang sein. Es bleibt zu hoffen, dass die dargestellten Instrumente, die die Europäischen Verträge zur Durchsetzung bieten, seine Wirkung im praktischen Leben der EU-Bürger entfalten. Spannend ist in diesem Zusammenhang insbesondere auch, wie und ob der neu eingeführte Konditionalitätsmechanismus seine angestrebten Ziele erreichen kann.
„Die Gemeinschaft ist eine Schöpfung des Rechts. Das ist das entscheidend Neue, was sie gegenüber früheren Versuchen auszeichnet, Europa zu einigen. Nicht Gewalt, nicht Unterwerfung ist als Mittel eingesetzt, sondern eine geistige, eine kulturelle Kraft, das Recht. Die Majestät des Rechts soll schaffen, was Blut und Eisen in Jahrhunderten nicht vermochten. Denn nur die selbstgewollte Einheit hat Aussicht auf Bestand, und Rechtsgleichheit und -einheit sind untrennbar miteinander verbunden.“[18]
Mit diesen Worten beschrieb Walter Hallstein, der erste Präsident der Kommission der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft den Europäischen Staatenbund. Der gewählte Bezug zur Rechtsgemeinschaft und der damit verbundenen Rechtstaatlichkeit ist heute aktueller denn je.
[1] Insbesondere EuGH Urt. v. 02.03.2021, Rechtssache C-824/18.
[2] Vgl. insoweit „Kommission forciert Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn“ abrufbar unter https://ec.europa.eu/germany/news/20210218-vertragsverletzungsverfahren-polen-ungarn_de (Beschluss vom 18.02.2021)
[3] Überbl. bei Halmai in Kadelbach, Verfassungskrisen in d. EU, 2018, 85; Mader, EuZW 2021, 133 (134).
[4] Ausf. Sadurski, Poland’s Constitutional Breakdown, 2019.
[5] Zusammenfassung weiterer Defizitbefunde in COM (2020) 580 final.
[6] S. auch v. Bogdandy/Spieker, EuR 2020, 301 (323 f.).
[7] EuGH, C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 48 = BeckRS 2018, 16206
[8] EuGH, C-216/18 PPU, ECLI:EU:C:2018:586 Rn. 48
[9] EuGH, C-64/16, ECLI:EU:C:2018:117 Rn. 31 = EuZW 2018, 469 = JuS 2018, 1016 (Streinz) – ASJP; C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 Rn. 47 = NVwZ 2019, 1109 (mAnm Klatt)
[10] Sauer, StaatsR III, 6. Aufl. 2020, § 8 Rn. 64 ff.
[11] Classen in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 23 Rn. 31.
[12] Dazu Ohler in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht d. EU, 2020, EUV Art. 49 (Juli 2017) Rn. 17.
[13] Hilf/Schorkopf in Grabitz/Hilf/Nettesheim, EUV Art. 2 (Mai 2020) Rn. 18.
[14] EuGH, C-619/18, ECLI:EU:C:2019:531 = NVwZ 2019, 1109 (mAnm Klatt) = JuS 2019, 917 (Payandeh); C-192/18, ECLI:EU:C:2019:924 = NJW 2020, 527 = JuS 220, 182 (Streinz).
[15] Skouris (o. Fn. 22), 50; skept. Ruffert in Calliess/Ruffert (o. Fn. 18), EUV Art. 7 Rn. 29.
[16] Möllers/Schneider, Demokratiesicherung in der EU, 2018, 106 f.
[17] 2021/2582(RSP).
[18] Hallstein, Der unvollendete Bundesstaat, 1969, 33.