Hat die Europäische Union ein Demokratiedefizit?

Zur demokratischen Legitimation der EU-Organe

23.05.2024

Nein: Nach hier vertretener Ansicht besteht ein solches Demokratiedefizit nicht – und  dennoch ist anzuerkennen: Die Frage nach einem Demokratiedefizit der Europäischen Union (EU) ist eine häufig gestellte, auch angesichts der aufkommenden Wahlen zum EU-Parlament am 09.06.2024. Dieser Beitrag versucht mit Vorurteilen hinsichtlich eines europäischen Demokratiedefizits aufzuräumen und die demokratische Legitimation der EU genauer zu beleuchten. Es soll aufgezeigt werden, warum die EU in vielerlei Hinsicht demokratisch legitimiert ist, wie jede:r einzelne Unionsbürger:in die Union durch Ausübung ihres/seines Wahlrechts mitgestalten kann und warum eine Teilnahme an der unmittelbar bevorstehenden Wahl von großer Bedeutung ist.

Vorwurf des Demokratiedefizits

Was genau ist eigentlich ein Demokratiedefizit? Der Vorwurf des Demokratiedefizits besagt, die EU sei in ihrem politischen Wirken nicht ausreichend demokratisch legitimiert, da eine Interessenvertretung und die politische Partizipation der Unionsbürger:innen im bestehenden Institutionsgefüge nicht hinreichend gewährleistet sei.[1] Argumentiert wird, es fehle an einem europäischen Staatsvolk und eine Gestaltungs- und Einflussmöglichkeit der Bürger:innen sei nicht in ausreichendem Maße gegeben.

[1] https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/das-europalexikon/176780/demokratiedefizit/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr, m.w.N.; https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/democratic-deficit.html, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.


Europäisches Parlament

Die Institutionen im Einzelnen

Die Europäische Union hat sich entgegen des Vorwurfs in den letzten Jahrzehnten jedoch erheblich weiterentwickelt, wobei die demokratische Legitimation insbesondere durch die Verträge von Maastricht und Lissabon verstärkt wurde. Mit der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten der Unionsbürger:innen hat die Union klare Impulse gesetzt, welche einem Demokratiedefizit entgegenwirken.[1]

Im Einzelnen:

Die die Demokratie förderlichen Änderungen zeigen sich insbesondere anhand des Europäischen Parlaments, welches sich von einer nicht direkt gewählten, lediglich beratenden Institution stufenweise zu einem in nahezu allen Bereichen gleichberechtigten Gesetzgebungsorgan neben dem Rat der Europäischen Union entwickelt hat. Heute ist es in seiner Funktion vergleichbar mit dem deutschen Bundestag.[2]

Es ist derzeit das einzig direkt gewählte Organ der EU und mithin für die demokratische Legitimation der Union von erheblicher Bedeutung. Als direkt demokratisch legitimiertes Organ ist es an allen wesentlichen wirtschaftlichen und politischen Entscheidungen auf supranationaler Ebene beteiligt:

Gemäß Art. 14 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) wird das Parlament alle fünf Jahre durch allgemeine, unmittelbare, freie und geheime Wahlen gewählt. Durch das ordentliche Gesetzgebungsverfahren, das in Art. 294 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) verankert ist, hat das Europäische Parlament erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung der EU. Die Bürger der EU sind mithin durch ihre gewählten Vertreter:innen an der Gesetzgebung beteiligt. Dem Europäischen Parlament kommt überdies eine Kontrollfunktion gegenüber der Europäischen Kommission zu, deren Mitglieder sie zudem auch wählt.[3] Hinzu kommt, dass das Parlament gemeinsam mit dem Rat der EU den EU-Haushalt beschließt.[4]

Kritisiert werden im Hinblick auf die demokratische Legitimation jedoch oftmals der Europäische Rat und der Rat der Europäischen Union.

Der Europäische Rat setzt sich aus den Staats- und Regierungschef:innen der Mitgliedstaaten zusammen und legt die allgemeinen politischen Ziele und Prioritäten der Union fest, gibt also die Richtlinien für die Handlungen der EU vor.[5]

Der Rat der Europäischen Union, neben dem Parlament das zweite zentrale Gesetzgebungsorgan der EU, setzt sich aus dem jeweiligen Minister:innen der Mitgliedstaaten zusammen. Hier werden Rechtsvorschriften diskutiert, geändert oder angenommen, der Rat der Europäischen Union ist gemeinsam mit dem Parlament Hauptbeschlussorgan der EU.[6]

Durch die national gewählten Vertreter:innen ist eine Legitimation mittelbar durch die nationalen Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten gegeben. Diese wurden ihrerseits ebenfalls in rechtsstaatlichen demokratischen Wahlen gewählt. Dass supranationale Legislative und nationale Exekutive hierbei nicht strikt geteilt bleiben, steht der demokratischen Legitimation schon deshalb nicht im Wege, da dies in vielen – als demokratisch anerkannten - Ländern, unter anderem auch Deutschland in Bezug auf den Bundesrat, gleichermaßen praktiziert wird.

Kritisiert wird zudem, dass weder das Europäische Parlament, noch der Rat ein Initiativrecht für Gesetze haben, sondern diese gem. Art. 294 AEUV durch die Kommission eingebracht werden müssen. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass in der Praxis zu beobachten ist, dass den Gesetzesanfragen des Parlaments und des Rates von der Kommission entsprochen wird. Faktisch bestehen entsprechende Initiativmöglichkeiten mithin. Auch wenn ein eigenes Initiativrecht zu bevorzugen wäre, so ist dieses Defizit durch die praktische Handhabung weitgehend ausgeglichen.

Als undemokratisch kritisiert wird überdies die Europäische Kommission, da ihre Mitglieder nicht direkt gewählt werden. Dennoch ist die Kommission durch mehrere Mechanismen demokratisch legitimiert:

Der/ Die Präsident:in der Kommission wird vom Europäischen Rat vorgeschlagen und muss vom Europäischen Parlament gewählt werden, Art. 17 EUV. Die gesamte Kommission muss ebenfalls vom Parlament bestätigt werden.[7] Niemand kann gegen den mehrheitlichen Willen des Parlaments Mitglied oder Präsident der EU-Kommission werden. Durch das parlamentarische Zustimmungserfordernis und die Möglichkeit des Misstrauensvotums durch das Europäische Parlament, Art. 234 AEUV, besitzt die Kommission eine hinreichende, wenn auch mittelbare demokratische Legitimation.[8]

Weiterhin spielen die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten eine wesentliche Rolle bei der Kontrolle der EU und tragen zur demokratischen Legitimation bei.[9] Durch das Subsidiaritätsprinzip, das in Art. 5 EUV verankert ist, und die Verfahren zur Überwachung der Einhaltung dieses Prinzips, Art. 12 EUV, haben die nationalen Parlamente die Möglichkeit, die Handlungen der EU zu überprüfen und zu beeinflussen. Hierdurch wird sichergestellt, dass die EU sich innerhalb der ihr durch demokratisch gewählte Vertreter übertragenen Kompetenzen bewegt und vermieden, dass sie anderweitige, nicht demokratische legitimierte Kompetenzen für sich beansprucht.

Es lässt sich hinsichtlich der einzelnen Institutionen feststellen, dass die EU über zahlreiche Mechanismen verfügt, die eine hinreichende demokratische Legitimation sicherstellen. Das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Rat der Europäischen Union, die Europäische Kommission und die nationalen Parlamente tragen alle dazu bei, dass die EU demokratisch kontrolliert und legitimiert ist. Es stellt sich daher die Frage, was dies für die anstehenden Europawahlen bedeutet:
 

[1] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/democratic-deficit.html, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[2] https://germany.representation.ec.europa.eu/news/mythos-die-eu-hat-ein-demokratiedefizit-2019-05-09_de, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[3] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/democratic-deficit.html, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[4] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/democratic-deficit.html, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[5] https://www.consilium.europa.eu/de/european-council/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[6] https://www.consilium.europa.eu/de/european-council/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[7] https://european-union.europa.eu/institutions-law-budget/institutions-and-bodies/european.commissio_de, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[8] https://european-union.europa.eu/institutions-law-budget/institutions-and-bodies/european.commissio_de, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[9] https://eur-lex.europa.eu/DE/legal-content/glossary/democratic-deficit.html, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.


eu-Kommission

Bedeutung für die Wahlen zum Europäischen Parlament

Die Abgeordneten des Europäischen Parlaments vertreten die Interessen der EU-Bürger:innen auf europäischer Ebene.[1] Aufgrund der weitreichende Gesetzgebungskompetenzen der EU, die unser aller Leben täglich berühren und gestalten (insbesondere hinsichtlich der Freizügigkeit und des Arbeitslebens) sowie der elementraren Rolle des Parlaments im Rahmen der Gesetzgebung wird deutlich, welchen Einfluss das Ergebnis der Wahl auf die Zukunft der EU und auch jedes einzelnen EU-Bürgers haben wird.

In der bevorstehenden Europawahl zum mittlerweile 10. Europaparlament gilt es in den 27 Mitgliedstaaten 720 Abgeordnete zu wählen, wobei der größte Anteil mit 96 Abgeordneten auf Deutschland entfällt. Es handelt sich um die zweitgrößte demokratische Wahl der Welt.[2]

Veranschaulicht man sich den hohen Prozentsatz von rund 13% der Abgeordneten, welche auf Deutschland entfallen, wird schnell deutlich, welchen Einfluss die Deutschen auf die Zukunft der EU haben, insbesondere vor dem Hintergrund der großen politischen Bedeutung des Parlaments gleichberechtigtes Gesetzgebungsorgan.

Unverständlich ist vor diesem Hintergrund die in der Vergangenheit immer wieder zu beobachtende niedrige Wahlbeteiligung. Diese war erfreulicherweise bei der letzten Wahl jedenfalls in Deutschland auf immerhin gute 60% angestiegen, sie lag in den meisten anderen Mitgliedstaaten jedoch deutlich niedriger.[3] Die EU eröffnet ihren Bürger:innen viele Rechte und Möglichkeiten, was offensichtlich durch viele Wähler:innen nicht wahrgenommen oder für selbstverständlich gehalten wird. Eine Wahl zum EU Parlament ist nach dem dargestellten keine Wahl zweiter Klasse, sondern einer nationalen Wahl in ihrer Bedeutung und ihren Auswirkungen vielmehr gleichzustellen.

Mithin sind eine aktive Beteiligung und ein Einsatz der europäischen Bürger:innen von Nöten, um ein für das Europäische Volk zufriedenstellendes Wahlergebnis zu erzielen, welches durch eine möglichst breite Masse getragen wird. Eine Spiegelung des politischen Willens der Bürger und eine damit einhergehende Zufriedenheit mit den Handlungen der EU setzt eine hohe Wahlbeteiligung voraus. Dies gilt sowohl hinsichtlich der europäischen Wahlen, als auch hinsichtlich der nationalen, da auch letztere, wie oben dargestellt, mittelbaren Einfluss auf die Handlungen der EU haben.

Kritisiert wird in diesem Zusammenhang oftmals, dass das demokratische Prinzip der Wahlrechtsgleichheit bei den Europawahlen verletzt würde.

Die Sitze im Europäischen Parlament werden nach dem Prinzip der degressiven Proportionalität vergeben, Artikel 14 EUV. Demnach wird die Gesamtzahl der Sitze zwar auf der Grundlage der Bevölkerungszahl der Mitgliedstaaten verteilt, jedoch sind die bevölkerungsreichen Mitgliedstaaten zugunsten der bevölkerungsärmeren Mitgliedstaaten unterrepräsentiert.[4] Eine perfekte Proportionalität zwischen der Anzahl der Abgeordneten pro Mitliedstaat und der Einwohner:innen der Länder besteht folglich nicht. Derartige Einschränkungen des Wahlgleichheitsprinzips werden jedoch auch in anderen demokratischen Staaten wie Frankreich oder Großbritannien, Deutschland und den USA akzeptiert. Hintergrund ist die Bildung unterschiedlich großer Wahlkreise. Zudem dient die Verteilung der Sitze dem Minderheitenschutz und der Funktionsfähigkeit des Parlaments, welches anderenfalls auf weit über 1.000 Mitglieder anwachsen würde, wenn größere Mitgliedstaaten ebenso wie die kleineren repräsentiert würden und letzteren weiterhin eine parlamentarische Mitbestimmung gewährt werden sollte. Mehrheitsentscheidungen würden hierdurch deutlich erschwert, wenn nicht in vielen Bereichen gar unmöglich gemacht würden. Überdies hat beispielsweise Deutschland, wie oben dargestellt trotz fehlender perfekter Proportionalität einen erheblichen Einfluss auf das Wahlergebnis, welcher durch die Bürger:innen auch genutzt werden sollte

[1] https://elections.europa.eu/de/how-elections-work/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[2] https://germany.representation.ec.europa.eu/news/mythos-die-eu-hat-ein-demokratiedefizit-2019-05-09_de, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[3] https://results.elections.europa.eu/de/wahlbeteiligung/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024,18:00 Uhr.

[4] https://www.europarl.europa.eu/factsheets/de/sheet/20/organisation-und-arbeitsweise-des-europaischen-parlaments, zuletzt abgerufen am 22.05.2024.

Fazit

Auch wenn das System der EU komplex ist und sich sicherlich auch in den kommenden Jahren und Jahrzehnten weiterentwickeln wird, so geht der Vorwurf einer fehlenden demokratischen Legitimation fehl. Die EU, wie wir sie heute vorfinden, ist global gesehen bereits jetzt ein sehr großer Erfolg in Sachen supranationaler Demokratie. Interessant und gleichermaßen beeindruckend ist: Kein anderer Kontinent der Welt hat bisher vergleichbar fortgeschrittene Formen der grenzüberschreitenden demokratischen Zusammenarbeit gefunden.[1] Das Europäische Parlament ist die einzig direkt gewählte transnationale Versammlung der Welt.[2]

Diese Besonderheit sollten die Bürger:innen bei der Europawahl am 09.06.2024 nutzen und von dem Privileg der supranationalen Mitbestimmung Gebrauch machen, um ihre Zukunft mitzugestalten – denn dies ist in der weitgehend demokratisch legitimierten EU gerade möglich.

[1] https://germany.representation.ec.europa.eu/news/mythos-die-eu-hat-ein-demokratiedefizit-2019-05-09_de, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.

[2] https://elections.europa.eu/de/how-elections-work/, zuletzt abgerufen am 22.05.2024, 18:00 Uhr.