Mit Urteil vom 05. Juni 2023 entschied der Europäische Gerichtshof, dass ein umstrittenes Gesetz zur Durchführung der polnischen Justizreform gegen EU-Recht verstößt. Durch dieses sollten Richter mittels einer dafür geschaffenen Disziplinarkammer unter anderem daran gehindert werden, eigenständig die Einhaltung unionsrechtlicher Rechtstaatlichkeitsstandards zu überprüfen.
Am 20. September 2019 erließ Polen ein Gesetz, in welchem die innerpolnischen Vorschriften über die Organisation der ordentlichen Gerichtsbarkeit, der Verwaltungsgerichtsbarkeit und des Obersten Gerichts geändert wurden. Danach sollte die Einhaltung unionsrechtlicher Mindestanforderungen an wirksamen Rechtsschutz nicht mehr durch die Gerichte selbst, sondern durch eine am Obersten Gericht Polens angesiedelte Kammer "für außerordentliche Überprüfung und öffentliche Angelegenheiten" sichergestellt werden. Bei Verstößen mussten Richter mit Disziplinarmaßnahmen rechnen. Daneben verpflichtete das Gesetz diese dazu, Angaben hinsichtlich ihrer Tätigkeiten in Vereinigungen und Stiftungen sowie über eine etwaige frühere Mitgliedschaft in einer politischen Partei zu machen, welche zudem veröffentlicht wurden.
Klage der Europäischen Kommission
Die Europäische Kommission hatte gegen dieses Gesetz Klage vor dem Europäischen Gerichtshof gegenüber Polen erhoben und stellte einen Antrag zur Feststellung, inwiefern die eingeführten Vorschriften gegen Unionsrecht verstoßen. Die Kommission bemängelte, dass die Disziplinarkammer, deren Unabhängigkeit und Unparteilichkeit institutionell nicht gewährleistet sei, hierdurch berechtigt werde, Entscheidungen zu treffen, die sich unmittelbar auf den Status und die Amtsausübung von Richtern auswirke.
Vor dem Hintergrund der zu beachtenden unionsrechtlichen Anforderungen an ein unabhängiges, unparteiisches und durch Gesetz errichtetes Gericht durch die Gerichte selbst würde die unionsrechtliche Gewährleistung effektiven Rechtschutzes unzulässig beschnitten. Die durch das Gesetz geschaffene Verpflichtung von Richtern, Angaben über etwaige Mitgliedschaften in Vereinigungen, Stiftungen oder Parteien zu machen, verletze die Richter zudem in ihrem Persönlichkeitsrecht und dem Recht auf Schutz personenbezogener Daten.
Gerichtsverfahren
Bereits im Laufe des Gerichtsverfahrens – im Juli 2021 – erlies der Vizepräsident des Gerichtshofs einen Beschluss in Form einer einstweiligen Anordnung, wonach es Polen bis zum Erlass eines endgültigen Urteils untersagt wurde, die von der Kommission gerügten Bestimmungen des Gesetzes anzuwenden. Im Oktober 2021 wurde Polen zur Durchsetzung dieses Beschlusses durch den Gerichtshof zur Zahlung eines Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro am Tag verpflichtet. Im April 2023 wurde der Betrag auf eine halbe Million Euro pro Tag herabgesetzt, nachdem Polen die Disziplinarkammer im Jahre 2022 wieder abgeschafft hatte. Mit dem nun erlassenen Urteil endet die Zahlungspflicht Polens hinsichtlich des Zwangsgeldes. Inhaltlich gab der EuGH der Klage der Kommission jedoch statt.
Urteil des Gerichtshofes
Zunächst stellt das Urteil fest, dass der EuGH zur Feststellung der Beachtung unionsrechtlicher Prinzipien wie Rechtsstaatlichkeit, wirksamer Rechtsschutz und Unabhängigkeit der Justiz uneingeschränkt zuständig ist. Aus dem Unionsrecht ergebe sich die Verpflichtung der Mitgliedstaaten, jede Beschränkung dieser Grundsätze, etwa durch Untergrabung der richterlichen Unabhängigkeit, zu vermeiden.
Des Weiteren urteilte der EuGH, dass die Disziplinarkammer des Obersten Gerichts Polens die europarechtlichen Anforderungen an die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit der Justiz nicht erfüllt. Bereits die bloße Aussicht polnischer Gerichte, durch Entscheidungen der Disziplinarkammer negative Folgen hinsichtlich Status und Amtsausübung befürchten zu müssen, beeinträchtige deren Unabhängigkeit. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die durch die Disziplinarordnung für Richter geschaffenen Sanktionsmöglichkeiten genutzt würden, um Gerichte daran zu hindern, die europarechtlichen Mindestanforderungen an wirksamen Rechtsschutz zu überprüfen. Die Beschränkung dieser Selbstkontrolle sei mit der unionsrechtlichen Garantie unabhängiger, unparteiischer und gesetzlich errichteter Gerichte nicht vereinbar.
Die Übertragung der Befugnis zur Prüfung, ob die unionalen Anforderungen an wirksamen Rechtsschutz in der EU eingehalten werden, habe nicht von den Gerichten an die Disziplinarkammer übertragen werden dürfen. Die Verpflichtung der Richter, Angaben hinsichtlich einer etwaigen Mitgliedschaft in Vereinigungen, einer Stiftung ohne Gewinnzweck oder einer politischen Partei machen zu müssen, sowie die Veröffentlichung dieser Daten verletze diese zudem in ihrem Persönlichkeitsrecht und dem Grundrecht auf Schutz personenbezogener Daten.
Die Folgen des Urteils
Polen ist verpflichtet, dem Urteil hinsichtlich der festgestellten Verstöße gegen die EU-Verträge unverzüglich nachzukommen. Geschieht dies nicht, kann die Kommission oder einem anderen Mitgliedstaat unter Beantragung finanzieller Sanktionen erneut geklagt werden.