Der Europäischen Haftbefehl ist über 20 Jahre alt. Er beruht auf dem Rahmenbeschluss 2002/584 aus dem Jahre 2002 (RB-EUHb). Doch es bedurfte eines medienwirksamen Ereignisses, um das Instrument in das Licht der Öffentlichkeit zu rücken. Dieses Ereignis ist der Fall des katalanischen Separatistenführers und Regionalpräsidenten Carles Puigdemont, der mit seinen Abspaltungsversuchen seither in den Augen der spanischen Regierung in Ungnade gefallen ist.
Im Jahre 2017 hatte Carles Puigdemont als damaliger Regionalregierungschef und Chef der Partei Junts per Catalunya (Zusammen für Katalonien) ein vom Verfassungsgericht Spaniens (Tribunal Constitucional) für illegal erklärtes Unabhängigkeitsreferendum abhalten lassen. Im Zuge dessen kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Wählern und derm Polizeiapparat. Nachdem sich Katalonien kurzzeitig für unabhängig erklärt hatte, wurde es zeitweise unter Zwangsverwaltung der Zentralregierung gestellt. Puigdemont und einige seiner Anhänger flohen ins Ausland und wurden wegen Rebellion und Veruntreuung öffentlicher Gelder angeklagt. Gegen Sie wurde ein Europäischer Haftbefehl ausgestellt.
Ein solcher ist zugleich Auslieferungsersuchen im Rahmen der internationalen Rechtshilfe. Dem Wesen nach handelt es sich dabei gem. Art. 1 Abs. 1 RB-EUHb um eine justizielle Entscheidung, die in einem Mitgliedstaat ergangen ist (Ausstellungsstaat) und die Festnahme sowie Übergabe einer gesuchten Person durch einen anderen Mitgliedstaat (Vollstreckungsstaat) zum Zwecke der Strafverfolgung oder zur Vollstreckung einer Freiheitsstrafe oder einer freiheitsentziehenden Maßregel der Sicherung zum Ziel hat.
Der Rahmenbeschluss 2002/584 zielt darauf ab, durch die Einführung eines vereinfachten und wirksameren Systems der Übergabe von Personen, die wegen einer Straftat verurteilt worden sind oder einer Straftat verdächtigt werden, die justizielle Zusammenarbeit zu erleichtern und zu beschleunigen, um zur Verwirklichung des der Union gesteckten Ziels beizutragen, sich zu einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts zu entwickeln.
Die Anwendbarkeit des Europäischen Haftbefehls wird durch Art. 2 RB-EUHb näher bestimmt. So darf ein solcher gem. Art. 2 Abs. 1 RB-EUHb nur dann erlassen werden, wenn die Handlung im Ausstellungsstaat mit einer Freiheitsstrafe oder einer sonstigen Sanktion im Höchstmaß von mindestens zwölf Monaten bedroht ist oder im Falle einer Verurteilung zu einer Strafe oder der Anordnung einer Maßregel der Sicherung, deren Maß mindestens vier Monate beträgt. Zu beachten ist ferner Art. 2 Abs. 2 RB-EUHb, wonach eine Auslieferung erfolgt, wenn die zugrundeliegende Straftat nach dem Recht des ersuchenden Staates mit einer freiheitsentziehenden Sanktion im Höchstmaß von mindestens drei Jahren bedroht und den in Art. 2 Abs. 2 RB-EUHb genannten Katalogtaten zugeordnet ist. Diesen Taten liegt v.a. organisierte und Schwerkriminalität zugrunde. Sind die Voraussetzungen einer solchen Tat erfüllt, so sieht der Rahmenbeschluss vor, dass eine beiderseitige Strafbarkeit, also ein Sanktionsanspruch sowohl des Ausstellungsstaates als auch des Vollstreckungsstaates nicht mehr zu prüfen ist.
In Fällen, die keine Katalogstraftat betreffen, muss die beiderseitige Strafbarkeit gesondert geprüft werden. Das bedeutet, dass die zugrundeliegende Tat des Verfolgten auch nach dem Recht des Vollstreckungsstaates strafbar sein muss. An dieser Voraussetzung scheiterte im Jahre 2018 etwa auch die Auslieferung Puigdemonts aus Deutschland. Einen Tatbestand der Rebellion (Sedición) kennt das deutsche Strafrecht – anders als etwa in Spanien – nicht.
Ein Auslieferungsersuchen kann abgelehnt werden, wenn geschriebene wie ungeschriebene Ablehnungsgründe Platz greifen, die jedoch im Lichte einer effektiven Strafverfolgung grundsätzlich eng auszulegen sind. So finden sich etwa geschriebene Regelungen in Art. 3, 4, 4a RB-EUHb. Des Weiteren kann eine Auslieferung aber auch an ungeschriebenen Grundsätzen scheitern. So ist die Rechtshilfe dann unzulässig, wenn sie zu den in Art. 6 EUV enthaltenen Grundsätzen im Widerspruch stehen. Dazu gehören sowohl die Gewährleistungen der GRCh gem. Art. 6 Abs. 1 EUV als auch der EMRK gem. Art. 6 Abs. 3 EUV (vgl. hierzu auch Erwägungsgrund 12 sowie Art. 1 Abs. 3 RB-EUHb sowie die in Rede stehende belgische Bestimmung).
Während das Verfahren gegen Puigdemont und Comín Oliveres, einen Anhänger desselben, ausgesetzt wurde, nachdem diese Mitglieder des Europäischen Parlaments geworden waren, lehnte ein belgisches Gericht nun auch die Vollstreckung des gegen Puig Gordi erlassenen Europäischen Haftbefehls ab.
Sie sahen die Gefahr eines Verstoßes gegen dessen Recht, vor ein durch Gesetz errichtetes Gericht gestellt zu werden. Nach Ansicht des belgischen Gerichts fehlt es an einer Zuständigkeitsnorm, die den spanischen Obersten Gerichtshofs (Tribunal Supremo) legitimiert, über die gesuchten Personen Recht zu sprechen. Der EuGH hat sich nun zu Reichweite und Grenzen des EU-Haftbefehls geäußert (Rechtssache C‑158/21).
Der Gerichtshof unterstreicht hierbei zunächst die Grundsätze des gegenseitigen Vertrauens und der gegenseitigen Anerkennung zwischen den Mitgliedstaaten, da sie die Schaffung und Aufrechterhaltung eines Raums ohne Binnengrenzen ermöglichen (vgl. hierzu Erwägungsgrund 6 sowie Art. 1 Abs. 2 RB-EUHb). Das bedeutet, dass eine rechtmäßig ergangene Gerichtsentscheidung in einem Mitgliedstaat auch in allen anderen Mitgliedstaaten grundsätzlich respektiert werde muss. So geht aus Art. 4 Abs. 3 UAbs. 1 EUV hervor, dass die Funktionsfähigkeit des Europäischen Haftbefehls nicht beeinträchtigt werden darf. Dieser Effektivitätsgrundsatz bedingt also auch eine effektive Strafverfolgung, die mit Hilfe des europäischen Auslieferungsrechts gestärkt wird. Dabei habe der Grundsatz loyaler Zusammenarbeit den Dialog zwischen der vollstreckenden und der ausstellenden Justizbehörde zu leiten.
Die Justizbehörde dürfe die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls nicht aus Gründen ablehnen, die ausschließlich aus dem Recht des Vollstreckungsmitgliedstaats hervorgehen. Nationale Bestimmungen stehen aber dann einer Vollstreckung entgegen, wenn durch die Vollstreckung gegen die Grundrechtecharta verstoßen wird.
Der zugrundeliegende Sachverhalt ist danach im Lichte des Fair Trial-Grundsatzes aus Art. 47 Abs. 2 GRCh auszulegen. Besteht eine echte Gefahr, dass die Person, gegen die ein Europäischer Haftbefehl ergangen ist, im Fall ihrer Übergabe an die ausstellende Justizbehörde eine Verletzung des genannten Grundrechts erleidet, kann es der vollstreckenden Justizbehörde gestattet sein – ausnahmsweise - auf der Grundlage des Art. 1 Abs. 3 des RB-EUHb, davon abzusehen, dem betreffenden Europäischen Haftbefehl Folge zu leisten.
Die zuständige Justizbehörde muss das Vorliegen von Angaben für die Annahme systemischer und allgemeiner Mängel in Bezug auf das Funktionieren des Justizsystems des Ausstellungsmitgliedstaates prüfen. Weiter ist zu untersuchen, ob in Anbetracht der persönlichen Situation dieser Person sowie der Art der strafverfolgungsbegründenden Straftat und des Sachverhalts, auf denen der Europäische Haftbefehl beruht, ernsthafte und durch Tatsachen bestätigte Gründe für die Annahme existieren, dass diese Person im Fall ihrer Übergabe an den Ausstellungsmitgliedstaat einer solchen Gefahr ausgesetzt sein wird.
Mit anderen Worten: Die Vollstreckung eines Europäischen Haftbefehls darf grundsätzlich nicht unter Berufung auf die fehlende Zuständigkeit des Gerichts abgelehnt werden, das über die gesuchte Person im Ausstellungsmitgliedstaat Recht zu sprechen hat. Die vollstreckende Justizbehörde hat diesbezüglich keine Prüfungskompetenz. Werden allerdings systemische oder allgemeine Mängel des Justizsystems und die offensichtliche Unzuständigkeit des Gerichts festgestellt, ist nach Ansicht des EuGH eine Vollstreckung abzulehnen. Dies hat die vollstreckende Justizbehörde jedoch sorgfältig zu überprüfen.
Der Loyalitätsgrundsatz verlangt überdies, dass die ausstellende Justizbehörde auf Grundlage des Rahmenbeschlusses um zusätzliche Informationen zur Ermittlung der oben genannten Grundsätze zu ersuchen ist.
Eine Anmerkung zum Schluss: Der katalanische Separatistenanführer muss sich in Spanien nicht mehr wegen des Vorwurfs der Rebellion verantworten. Der Oberste Gerichtshof in Madrid ließ den Vorwurf im Zusammenhang mit dem Abspaltungsversuch der Region im Nordosten Spaniens von 2017 fallen. Zuvor war dieser Straftatbestand, auf den 15 Jahre Haft standen, zur Beruhigung des Katalonien-Konflikts abgeschafft worden. Trotz der möglichen Strafmilderung gilt es als unwahrscheinlich, dass Puigdemont nun autonom aus dem Exil in Belgien zurückkehrt, zumal eine Verurteilung wegen anderer Delikte weiterhin möglich bleibt.