Der zweite große Bericht zur Reform der Europäischen Union dieses Jahres ist erschienen: Der Text des ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und EZB-Chefs Mario Draghi mit dem sperrigen Titel "The future of European competitiveness: A competitiveness strategy for Europe" war in den Mitgliedsstaaten mit Spannung erwartet worden. Europa müsse "eine enorme Menge Geld" auftreiben hatte Draghi bereits im Feburar durchscheinen lassen und damit Gegner gemeinsamer Schulden in der Union auf den Plan gerufen, auch und gerade in Deutschland. Nun ist das 400-Seitige Dokument erschienen.
Draghi beschreibt einen Paradigmenwechsel in der europäischen Wirtschaft. Europa habe gleichzeitig den Anschluss an den (digtalen) Fortschritt verloren und mit besonders schwierigen Bedingungen zu kämpfen. Mit Russland ist der wichtigste Lieferant fossiler Energieträger ausgefallen, das schwierige geoökonomische Umfeld erschwert internationale Investitionen. Anhängigkeiten im internationalen Handel machen die europäische Wirtschaft verwundbar.
Das Rezept gegen den drohenden Niedergang, die "existenzielle Bedrohung", ist ein Rekord-Investititonsprogramm. Um 5% des BIP möchte Draghi die Investitionsquote in der EU steigern und vergleicht diese Zahlen mit den Zusatzinvestments im Rahmen des Marshallplans, die 1-2% des BIP betrugen.
Zentral für Draghis Reformpläne ist die Dekarbonisierung insbesondere der Energieversorgung. Während Energiepreise in Europa im Vergleich zu den USA noch immer viel höher sind, könne die konsequente Umstellung auf grüne Technologien nicht nur für ein dauerhaft niedrigeres Preisniveau in der Energieversorgung sorgen, sondern gleichzeitig auch ein wichtiger Wachstumsmarkt für die europäische Industrie sein.
Draghis Bericht ist auch ein Appell für eine Vertiefung der europäischen Integration. Die EU habe die ökonomische Kraft für weitreichende Investitionen, aber setze sie nicht zielgerichtet und koordiniert ein und ist darüber hinaus von langen, aufwändigen legislativen Prozessen gelähmt.
Das von Draghi diagnostizierte Investitionsdefizit ließe sich zum großen Teil mit privatem Kapital füllen, so der Bericht. Dennoch müsse es der Union weiterhin erlaubt sein, gemeinsame Schulden aufzunehmen, zum Beispiel nach dem Vorbild des Corona-Wiederuafbaufonds "NextGenEU".
Insbesondere in Deutschland, das in Brüssel als notorisch "sparsamer" Mitgliedsstaat gilt, war Draghis Bericht mit Spannung erwartet worden. Draghis Diagnosen können schwerlich als neu bezeichnet werden und so überrascht es, dass der Bericht in der Bundesrepublik durchaus gemischte Reaktionen hervorrief. Die Reaktionen aus den Kreisen der Bundesregierung fallen dabei zwischen den Koalitionspartnern durchaus unterschiedlich aus. Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) ließ nach der Veröffentlichung des Berichtes verlauten, dass eine gemeinsame Schuldenaufnahme in der EU nicht zur Lösung struktureller Probleme beitragen würde.
Ganz anders äußerte sich sein Kabinettskollege Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen), der von einem Weckruf für Europa sprach und seine Unterstützung bei der Umsetzung zusagte.
Auch aus der Wirtschaft kamen gemischte Reaktionen. Der Verband der Anbieter von Telekommunikations- und Mehrwertdiensten lobte zwar die Anregungen für die Stärkung des Binnenmarktes, fürchtet aber Wettbewerbsbeschränkungen in der Telekommunikationsbranche und nannte diese "brandgefährlich".
Der Bericht des ehemaligen EZB-Chefs ist zweifellos der weitreichendste Vorschlag für ökonomische Policy-Reform in Europa der vergangenen Jahre und die Chancen stehen gut, dass seine Inhalte nicht ungehört verhallen. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat bereits angekündigt, Draghis Erkenntnisse und Vorschläge in die Ressortzuschnitte der kommenden Kommission einfließen zu lassen. Parallel dazu beginnt die Debatte, ob und wie die Investment-Strategie des Draghi-Berichts nicht nur im aktuellen politischen Klima sondern auch ohne Vertragsreformen durchsetzbar ist.
Die deutsche Debatte läuft indes Gefahr, sich auf das Reizthema gemeinsamer Schuldenaufnahme zu verengen. Viel mehr sollte der Draghi-Bericht als umfassende ökonomische Modernisierungsstrategie verstanden und bewertet werden.