Die Fragmentierung des EU-Parlaments

Eine Herausforderung für die europäische Einheit

15.02.2024

Vom 6. – 9. Juni 2024 sind Europawahlen. Auch in Deutschland werden hierbei wieder einige neue Parteien auf dem Wahlzettel stehen, die sich gute Chancen auf den Einzug ins Europaparlament ausrechnen. Die voranschreitende Fragmentierung des EU-Parlaments in immer mehr Abgeordnete aus kleineren Parteien wird vor allem dadurch begünstigt, dass es bei der Europawahl vielen EU-Staaten keine Sperrklausel für Kleinparteien gibt. Bei der letzten Europawahl genügten beispielsweise in einigen Mitgliedstaaten weniger als 1% der Stimmen, um einen Sitz im Parlament zu erringen. Auch in Deutschland existiert für die Europawahl – anders als für die Bundestagswahl - keine 5-Prozent-Hürde, was den Einzug von Kleinparteien ermöglicht und die politische Landschaft im Parlament weiter zersplittern lässt.

Auswirkung der Fragmentierung

Die Fragmentierung des EU-Parlaments ist ein Trend, der sowohl Chancen als auch Risiken birgt. Einerseits stellt sie eine Herausforderung für die politische Stabilität und Effizienz des Parlaments dar, da die Bildung stabiler Mehrheiten erschwert wird. Hierbei sind jedoch die Besonderheiten des EU-Parlaments zu berücksichtigen. Anders als nationale Parlamente wählt das Europäische Parlament keine Regierung im traditionellen Sinn, wodurch die Gegenüberstellung von Regierungskoalition und Oppositionsfraktionen weniger stark ausgeprägt ist. Stattdessen wird oft nach Kompromisslösungen zwischen den großen Fraktionen gesucht. Diese Suche nach Kompromissen und die Zusammenarbeit zwischen den großen Parteien führen dazu, dass die Effektivität des Parlaments auch in Zeiten zunehmender Fragmentierung erhalten bleibt. Die theoretische Gefahr, dass sich ab einem gewissen Punkt gar keine Mehrheit mehr finden lassen, weil die politischen Positionen der Kleinparteien zu weit voneinander abweichen, bleibt natürlich dennoch bestehen.

Andererseits können kleine Parteien eine wichtige Rolle bei der Vertretung verschiedener politischer Ansichten und Interessen spielen. So kann es zur Akzeptanz der Europapolitik beitragen, wenn auch kleinere Parteien im Parlament vertreten sind. Wenn sich diese Parteien den großen, pro-europäischen Fraktionen anschließen, kann dies die politische Kohärenz stärken und die Demokratie fördern.

Aus Sicht der EU bedenklich ist hingegen die wachsende Anzahl von antieuropäischen Partien. Sie könnten sich in antieuropäischen Fraktionen zusammenschließen und hätten dann die Möglichkeit, wichtige Entscheidungen zu blockieren. Dies würde die Effektivität der EU-Gesetzgebung und letztlich auch die Handlungsmöglichkeiten des Parlaments und der gesamten EU stark beeinträchtigen. Angesichts der teils hohen Wahlergebnisse, die antieuropäische Parteien derzeit in ganz Europa erzielen, würde diese Gefahr durch die flächendeckende Einführung einer Sperrklausel jedoch nicht gebannt. Im schlimmsten Fall würde der Einfluss europafeindlicher Parteien sogar gestärkt, da kleinere, europafreundliche Parteien an dieser Hürde scheitern könnten.

Unterschiedliche Gesetzeslage

Wie man sieht, gibt es gute Gründe für und auch gute Gründe gegen eine so genannte Sperrklausel. Dies führt jedoch zu einem anderen, möglicherweise problematischen Umstand: da das Wahlrecht grundsätzlich im Verantwortungsbereich der einzelnen Mitgliedstaaten liegt, ist die Frage der Sperrklausel in allen Ländern unterschiedlich geregelt. So gibt es in vielen großen Ländern wie zum Beispiel Frankreich (5%) und Italien (4%) bereits Sperrklauseln während insbesondere Deutschland als Land mit den meisten Sitzen im Parlament bis heute keine hat. Somit sind Kleinparteien aus Deutschland im Vergleich überrepräsentiert. Die EU versucht schon seit längerem, diese Unterschiede zu beseitigen. Bisher wurden jedoch alle Versuche, in Deutschland eine Sperrklausel für die Europawahl einzuführen, vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) gekippt. 2011 entschied es, dass eine 5-Prozent-Hürde unzulässig sei, 2014 viel dieselbe Entscheidung für eine 3-Prozent--Hürde. Bei seinen Entscheidungen betonte das Bundesverfassungsgericht stets die bereits erwähnten Unterschiede zwischen dem EU-Parlament und dem Bundestag. Insbesondere, da das EU-Parlament keine Regierung trage, sei die Gefahr, die durch eine Fragmentierung entstehe nicht so groß, dass sie die Einführung einer Sperrklausel rechtfertigen würden. Denn die Konsequenzen einer solchen Sperrklausel sind nicht zu unterschätzen: alle Stimmen, die an Parteien gegeben würden, die unter dieser Hürde zurückbleiben, bleiben defacto unberücksichtigt. Dies stellt einen großen Eingriff in den Grundsatz der gleichen Wahl dar, der sich aus Art. 38 Grundgesetz ergibt.

Anfang Mai 2022 hat das EU-Parlament einen Vorschlag für eine Reform des Europawahlrechts eingebracht, welcher u.a. auch die Einführung einer 3,5-Prozent-Sperrklausel in den bevölkerungsreichsten EU-Staaten vorsieht. Ab einer Anzahl von mehr als 60 Sitzen im EU-Parlament sollen Parteien künftig mindestens 3,5 Prozent der Stimmen benötigen, um ins Parlament einziehen zu können. Auch gegen das Zustimmungsgesetz für die neue EU-Regelung wurde Verfassungsbeschwerde vor dem BVerfG eingelegt. Wie in solchen Fällen üblich, hat der Bundespräsident die Ausfertigung des Gesetzes vom Ausgang des Eilverfahrens abhängig gemacht. Noch ist unklar, wie das BVerfG dieses Mal entscheiden wird. Expert:innen sind sich uneinig, da dieses Mal nicht ein Deutsches Gesetz direkt, sondern nur die Zustimmung zu einem Europäischen Gesetz geprüft wird. Hierbei sind grundsätzlich andere Maßstäbe anzusetzen. Von dem Ausgang dieses Verfahrens hängt auch der gesamte Erfolg des Gesetzesvorschlag ab, da dieser nur umgesetzt wird, wenn alle Mitgliedstaaten zustimmen.

Aussicht

In jedem Fall ist es unwahrscheinlich, dass die neue Regelung schon zur kommenden Wahl im Juni in Kraft tritt. Insoweit werden wohl wieder einige Parteien mit zum Teil weniger als 1% der Stimmen in das EU-Parlament einziehen. Dies ist für die Parteien mit nicht unerheblichen Vorteilen verbunden: Sie erhalten finanzielle Unterstützung aus dem Haushalt im Rahmen der Parteienfinanzierung sowie Ressourcen für ihre Abgeordneten, wie zum Beispiel parlamentarische Assistenten. Gerade für neue Parteien können hierdurch wichtige Grundsteine gelegt werden, um sich auch in den nationalen Parlamenten zu beweisen. Auch deshalb werden sich kleine Parteien wohl auch in Zukunft gegen die Einführung einer Sperrklausel wehren.