Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union - Inhalt und Bindungswirkung

Ein Beitrag von Rilinda Saiti

22.07.2022

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union definiert die Rechte und Freiheiten der Menschen, die in der Europäischen Union leben. Diese Grundrechte sind von den Organen und Institutionen der Europäischen Union sowie von den Mitgliedstaaten, wenn sie Unionsrecht umsetzen oder anwenden, zu achten und zu garantieren. 

1. Einleitung

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union definiert die Rechte und Freiheiten der Menschen, die in der Europäischen Union leben. Diese Grundrechte sind von den Organen und Institutionen der Europäischen Union sowie von den Mitgliedstaaten, wenn sie Unionsrecht umsetzen oder anwenden, zu achten und zu garantieren. 

Mit der Charta der Grundrechte hat die Europäische Union erstmals in ihrer Geschichte einen rechtlich verbindlichen Katalog von Bürgerfreiheiten, Grundrechten und wirtschaftlichen und sozialen Rechten der europäischen Bürger formuliert.1 

Sie orientiert sich an der Europäischen Menschenrechtskonvention, der Europäischen Sozialcharta des Europarates, der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer, den mitgliedstaatlichen Verfassungen sowie an internationalen Menschenrechtsübereinkommen. Zum Teil geht die Grundrechtecharta (GRCh) über andere Grundrechtskataloge hinaus, z.B. indem sie in Art. 41 GRCh das Recht auf gute Verwaltung oder in Art. 24 GRCh Rechte von Kindern garantiert.2

2. Entstehung

Auf Initiative der deutschen Bundesregierung fasste im Jahr 1999 der Europäische Rat zwei Beschlüsse, mit denen er einen Europäischen Konvent mit der Ausarbeitung eines Entwurfs einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union beauftragte. Dieser setzte sich aus 15 Beauftragten der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, einem Vertreter der Europäischen Kommission, 16 Mitgliedern des Europäischen Parlaments und 30 Abgeordneten der nationalen Parlamente, jeweils zwei aus jedem Mitgliedstaat, zusammen. Als Vorsitzender des Europäischen Konvents wurde der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog gewählt. 

Nach neun Monaten intensiver Debatten billigte der Grundrechtekonvent in seiner Abschlusssitzung vom 02. Oktober 2000 den Entwurf der Grundrechtecharta. Zum Auftakt des Europäischen Rates von Nizza am 07. Dezember 2000 wurde sie sodann von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rats und der Kommission unterzeichnet und förmlich proklamiert. Sie blieb jedoch zunächst unverbindlich.3 

Indem sie als zweiter Teil in den am 29. Oktober 2004 unterzeichneten Vertrag über eine Verfassung für Europa eingefügt wurde, sollte sie Bindungswirkung erhalten. Der Verfassungsvertrag wurde allerdings aufgrund der Ablehnung von Frankreich und den Niederlanden nie ratifiziert. Im Vertrag von Lissabon wurde die Grundrechtecharta zwar nicht mehr aufgenommen. Auf sie wird jedoch in Art. 6 Abs. 1 des EU-Vertrages (EUV) ausdrücklich hingewiesen, sodass die Grundrechtecharta zusammen mit dem Vertrag von Lissabon am 01. Dezember 2009 in Kraft trat und seither den Rang von Primärrecht hat. Das bedeutet, dass sie zu den obersten rechtlichen Bestimmungen der Europäischen Union gehört und auf einer Stufe mit den Gründungsverträgen steht.4

3. Inhalt

Die Charta der Grundrechte umfasst neben einer einleitenden Präambel insgesamt 54 Artikel, die in sieben Kapitel unterteilt sind. In den ersten sechs Kapiteln sind die Grundrechte geordnet: die Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte. 

Kapitel 1 enthält die Rechte auf Menschenwürde, Leben, körperliche und geistige Unversehrtheit sowie das Verbot von Folter, unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, Sklaverei und Zwangsarbeit. 

In Kapitel 2 werden das Recht auf Freiheit und Sicherheit, die Achtung des Privat- und Familienlebens, der Schutz personenbezogener Daten, das Ehe- und Familiengründungsrecht, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, die Freiheit der Meinungsäußerung und der Information, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, das Recht auf Bildung und das Recht zu arbeiten, die Berufs- und unternehmerische Freiheit, die Eigentumsfreiheit, das Recht auf Asyl sowie Schutz gegen Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung normiert. 

Kapitel 3 behandelt das Gleichheitsrecht vor dem Gesetz, die Diskriminierungsverbote, die Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, die Gleichstellung von Männern und Frauen, die Rechte von Kindern und älteren Menschen sowie die Integration von Behinderten. 

In Kapitel 4 werden Rechte aus dem Arbeitsleben, das Verbot der Kinderarbeit, der Schutz des Familien- und Berufslebens, das Recht auf Zugang zu Leistungen der sozialen Sicherheit und sozialen Unterstützung, der Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutz sowie das Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse aufgeführt. 

Kapitel 5 enthält die Wahlrechte bei den Wahlen zum Europäischen Parlament und zu den Kommunalwahlen, das Recht auf gute Verwaltung durch die EU-Organe und Einrichtungen und den Zugang zu EU-Dokumenten, das Recht auf Anrufung des Bürgerbeauftragten und das Petitionsrecht, die Freizügigkeit und das Aufenthaltsrecht sowie den diplomatischen und konsularischen Schutz. 

In Kapitel 6 werden das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf bei Gericht, ein unparteiisches Gericht, die Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte des Angeklagten, die Grundsätze der Gesetz- und Verhältnismäßigkeit für Straftaten und Strafen sowie das Verbot der Doppelbestrafung genannt. 

Im siebten und abschließenden Kapitel, der mit „Allgemeinen Bestimmungen“ überschrieben ist, wird der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta, die Tragweite der garantierten Rechte, das Schutzniveau und das Verbot des Missbrauchs der Rechte geregelt. 

Grundsätzlich kann die Ausübung der Grundrechte der Charta nach Art. 52 Abs. 1 GRCh eingeschränkt werden. Diese allgemeine Schrankenklausel setzt jedoch voraus, dass eine Einschränkung der Grundrechtsausübung gesetzlich vorgesehen ist und dabei der Wesensgehalt der Grundrechte und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Ausnahmen bilden einige fundamentale Grundrechte, wie die Menschenwürde in Art. 1 GRCh, das Folterverbot in Art. 4 GRCh oder das Sklavereiverbot in Art. 5 GRCh, die absolut gelten und daher nicht eingeschränkt werden können. Im Übrigen können sich alle natürlichen und juristischen Personen, die der Hoheitsgewalt der Europäischen Union unterfallen, auf die Grundrechte berufen.

4. Bindungswirkung

Gemäß Art. 51 GRCh bindet die Charta der Grundrechte sowohl die Europäische Union als auch die Mitgliedstaaten bei der Durchführung von Unionsrecht. Die Bindungswirkung der Grundrechtecharta reicht somit unterschiedlich weit. 

a. Bindung der Europäischen Union

Mit der Europäischen Union als Grundrechtsverpflichtete sind die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union gemeint. Die Organe der Union werden in Art. 13 Abs. 1 EUV aufgelistet, nämlich das Europäische Parlament, der Europäische Rat, der Rat, die Europäische Kommission, der Europäische Gerichtshof, die Europäische Zentralbank und der Rechnungshof. Unter Einrichtungen und Stellen sind sämtliche durch die Verträge oder durch Rechtsakte geschaffene Institutionen, insbesondere europäische Ämter und Agenturen, wie z.B. die Europäische Investitionsbank, Europol oder FRONTEX zu verstehen.5

Erfasst wird von der Bindungswirkung des Art. 51 GRCh die gesamte im Rahmen der Verträge ausgeübte Hoheitsgewalt der Union unter Wahrung des Subsidiaritätsprinzips. Das bedeutet, dass die Europäische Union die Grundrechtecharta nur entsprechend ihrer jeweiligen Zuständigkeiten und unter Achtung der Grenzen dieser Zuständigkeiten, die ihr in den Verträgen übertragen worden sind, anwenden darf. Ergänzend dazu bestimmt Art. 6 Abs. 1 EUV, dass durch die Bestimmungen der Charta die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Europäischen Union in keiner Weise erweitert werden.

b. Bindung der Mitgliedstaaten

Die Mitgliedstaaten werden hingegen von Art. 51 GRCh ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union an die Grundrechtecharta gebunden. Was aber unter „Durchführung des Rechts der Union“ zu verstehen ist, ist nach wie vor nicht einheitlich geklärt. 

Stellt man allein auf den Wortlaut der Regelung ab, so sind die Mitgliedstaaten an die EU-Grundrechte nur gebunden, wenn sie Unionsrecht tatsächlich „durchführen“. Damit sind unstreitig der Vollzug von Verordnungen, die Umsetzung von Richtlinien in nationales Recht und die Anwendung von Unionsrecht durch die mitgliedstaatlichen Verwaltungen und Gerichte gemeint.6 Zum Teil wird davon gesprochen, dass eine Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten immer dann besteht, wenn sie als Vertreter der Union handeln („Vertretungsfall“).7 

Der Europäische Gerichtshof interpretiert den Begriff „Durchführung“ allerdings weitgehender in dem Sinne, dass die Unionsgrundrechte die Mitgliedstaaten in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen binden. Danach kommt es für die Bindungswirkung der Grundrechtecharta nicht darauf an, dass die Mitgliedstaaten das Unionsrecht tatsächlich „durchführen“, sondern dass die nationale Regelung generell in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt.8 Lediglich auf rein nationale Sachverhalte findet die Grundrechtecharta demnach keine Anwendung. Hierfür sind weiterhin die mitgliedstaatlichen Grundrechte alleiniger Prüfungsmaßstab. 

Durch ein „Protokoll über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union auf Polen und das Vereinigte Königreich“ haben sich diese beiden Mitgliedstaaten weitere Einschränkungen der Bindungswirkung der Grundrechtecharta vorbehalten, insbesondere, dass das vierte Kapitel der Charta für sie keine einklagbaren Rechte begründet, soweit diese Rechte nicht in ihrem eigenen Recht vorgesehen sind.

5. Auswirkungen

Die Grundrechtecharta hat mit der Zeit große Wirkung auf die Arbeit der Europäischen Union entfaltet. So prüft die Europäische Kommission seit 2010 mittels einer „Grundrechts-Checkliste“ jeden ihrer Gesetzesvorschläge, die irgendeinen Bezug zu den Grundrechten haben, auf die Vereinbarkeit mit der Grundrechtecharta. Ebenso prüft das Europäische Parlament jährlich die Einhaltung der Grundrechte durch die Europäische Union und die Mitgliedstaaten und verabschiedet einen entsprechenden Bericht mit Empfehlungen zur Verbesserung des Grundrechtsschutzes in der Union. Zudem wurde im Jahr 2002 auf Initiative des Europäischen Parlaments ein Netz von Menschenrechtsexperten für die Durchführung einer Evaluierung der Umsetzung aller in der Charta verkündeten Grundrechte eingerichtet. Das Netzwerk erstellt Berichte und richtet Empfehlungen an die Institutionen der Gemeinschaft und an die Mitgliedstaaten.9 

Auch der Europäische Gerichtshof hat in seiner Rechtsprechung in zunehmendem Maße auf die Grundrechtecharta Bezug genommen. Nicht nur, dass er die Charta immer häufiger in seinen Urteilsbegründungen zitiert. Er erklärte auch am 01. März 2011 Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie 2004/113/EG zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen für unvereinbar mit den Grundrechten aus den Art. 21 GRCh und 23 GRCh. Das Diskriminierungsverbot und das Gleichheitsrecht von Männern und Frauen seien durch die Regelung verletzt worden.10 Am 08. April 2014 erklärte er sogar die ganze Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsspeicherung von Daten wegen unverhältnismäßiger Eingriffe in das Recht auf Schutz personenbezogener Daten nach Art. 8 GRCh und das Recht auf Achtung des Privatlebens nach Art. 7 GRCh für ungültig.11 

6. Fazit

Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die zunächst als einfacher Entwurf begann, besitzt nun seit mehr als zehn Jahren Rechtsverbindlichkeit. Inzwischen ist ihre Bedeutung als Wertefundament der Europäischen Union nicht mehr wegzudenken. Nicht nur, dass sie erheblichen Einfluss auf die Arbeit der Unionsorgane und Mitgliedstaaten nimmt, die ihr Handeln im Rahmen des Unionsrechts an den Grundrechten der Charta messen lassen müssen. Sie fasst die gemeinsamen europäischen Werte, Rechte und Freiheiten zusammen und stärkt die Identität und Legitimität der Europäischen Union als Wertegemeinschaft. Dabei geht sie als modernes europäisches Dokument über die Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten hinaus und gewährt den Bürgern in Anbetracht sozialen und politischen Wandels weitergehende Grundrechte. Ihr Ziel, den Grundrechten größere Sichtbarkeit und Klarheit zu verleihen, hat sie nicht zuletzt auch dank der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs erreicht, der in seinen Urteilen immer häufiger auf die Grundrechtecharta Bezug nimmt und ihr eine weitgehende Bindungswirkung zuspricht. Auch für die Zukunft ist zu erwarten, dass die Charta der Grundrechte der Europäischen Union immer weiter in den Fokus der europäischen Gemeinschaft rücken wird, insbesondere anlässlich aktueller Entwicklungen, wie z.B. der Justizreform in Polen. 



 

1 Europäische Grundrechtecharta, https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/europa/europaeische-grundrechtecharta-436114 (zuletzt abgerufen am 06.01.2020).

2 Die Grundrechtecharta, https://www.europarl.europa.eu/germany/de/europa-und-europawahlen/grundrechtecharta (zuletzt abgerufen am 06.01.2020).

3 Europäischer Rat – Nizza, https://www.europarl.europa.eu/summits/nice1_de.htm (zuletzt abgerufen am 06.01.2020); Charta der Grundrechte der Europäischen Union, http://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/das-europalexikon/176751/charta-der-grundrechte-der-europaeischen-union (zuletzt abgerufen am 06.01.2020).

4 Die neuen EU-Grundrechte, https://www.telemedicus.info/article/2000-Die-neuen-EU-Grundrechte.html (zuletzt abgerufen am 29.01.2020).

5 Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta, Stangl in: Kahl, Arno/Raschauer, Nicolas/Storr, Stefan, Grundsatzfragen der europäischen Grundrechtecharta, S. 4.

6 Grundrechtsverpflichtete und Grundrechtsdimensionen nach der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Cremer, EuGRZ 2011, S. 545 ff.

7 Die EU-Grundrechtecharta: Anwendbarkeit und Auslegung, Lenaerts, EuR 2012, S. 4.

8 Kingfreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, Art. 51 GRCh, Rn 8.

9 Die Grundrechtecharta, https://www.europarl.europa.eu/germany/de/europa-und-europawahlen/grundrechtecharta (zuletzt abgerufen am 28.01.2020).

10 Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 01. März 2011, Rs. C-236/09.

11 Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 08. April 2014, Rs. C-293/12, C-594/12.