Regelungen zum Familiennachzug von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen in Abhängigkeit vom Alter
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat am 12.04.2018 ein Urteil gefällt[1], das für die deutsche Rechtslage im Bereich des umgekehrten Familiennachzugs zu unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen eine deutliche Wende bedeuten wird.
Vor dem gegenständlichen Urteil des EuGH ging die deutschen Rechtsprechung davon aus, dass der Anspruch auf Nachzug der Eltern zu Flüchtlingskindern gem. Art. 10 Abs. 3 lit. a der Familienzusammenführungs-RL (2003/86/EG) erlischt, wenn die nachzugsberechtigten Personen (in der Regel die Eltern) nicht eingereist sind, bevor die minderjährige Person volljährig wird.[2]
Die Anerkennung als Flüchtling hat grundsätzlich eine bloß deklaratorisch Wirkung (vgl. 21. Erwägungsgrund der RL 2011/95/EU). Der EuGH hat sich in seinem Urteil maßgeblich auf diese deklaratorische Wirkung berufen um darzulegen, dass für die Entstehung des Familiennachzugsanspruch nicht – wie vorher angenommen – der Zeitpunkt des Nachzugs entscheidend ist. Vielmehr müsse – so die Richter – der Zeitpunkt der Asylantragstellung als maßgeblich erachtet werden.
Folglich besteht der Anspruch auf Familienzusammenführung nach Art. 10 Abs. 3 lit. a der FamilienzusammenführungsRL auch dann, wenn eine zum Asylantragszeitpunkt unbegleitete minderjährige Person während des laufenden Asylverfahrens (so lag der Fall in diesem Vorlageverfahren) oder während des Familienzusammenführungsverfahrens volljährig wird.
Hieran wird sich die in Deutschland bisher geltende Praxis des Familiennachzugs zu unbegleiteten Minderjährigen anzupassen haben.
Die minderjährige Tochter von A und S reiste unbegleitet in die Niederlande ein. Dort stellte sie am 26. Februar 2014 einen Asylantrag. Am 2. Juni 2014 wurde sie volljährig. Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2014 erteilte der Staatssekretär der Betroffenen (zuvor Minderjährigen) rückwirkend zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags einen auf fünf Jahre befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte.
Am 23. Dezember 2014 stellte die Organisation VluchtelingenWerk Midden-Nederland im Namen der Tochter von A und S einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für ihre Eltern und ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung. Dieser Antrag wurde mit Entscheidung vom 27. Mai 2015 vom zuständigen Staatssekretär mit der Begründung abgelehnt, die Tochter von A und S sei bei deren Antragstellung (auf Familiennachzug) bereits volljährig gewesen.
Gegen diese Entscheidung legte die Antragstellerin Widerspruch ein, der mit Entscheidung vom 13. August 2015 als unbegründet zurückgewiesen wurde. Hiergegen erhoben A und S Klage bei der Rechtbank Den Haag (Gericht von Den Haag, Niederlande).
A und S machten zur Begründung ihrer Klage geltend, dass aus Art. 2 lit. f der RL 2003/86/EG folge, dass es für die Frage, ob jemand ein „unbegleiteter Minderjähriger“ im Sinne dieser Bestimmung sei, auf den Zeitpunkt ankomme, zu dem die (minderjährige) Person in den Mitgliedstaat einreise. Demgegenüber vertrat der Staatssekretär die Auffassung, dass dafür der Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf Familienzusammenführung maßgeblich sei.
Das vorlegende niederländische Gericht wies darauf hin, dass der Raad van State (Staatsrat, Niederlande) in zwei Urteilen vom 23. November 2015 entschieden habe, dass es bei der Beurteilung, ob ein ausländischer Staatsangehöriger in den Anwendungsbereich von Art. 2 lit. f der RL 2003/86/EG falle, berücksichtigt werden dürfe, wenn er nach seiner Ankunft in den Niederlanden volljährig geworden sei. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts sei nach Art. 2 lit f der RL 2003/86/EG für die Beurteilung der Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen grundsätzlich auf den Zeitpunkt seiner Einreise in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaats abzustellen.
Der EuGH bestätigte die Rechtsauffassung des vorlegenden Gerichts.[3]
Nach Ansicht des EuGH gebiete es, neben der lediglich deklaratorischen Wirkung der Anerkennung des Flüchtlingsstatus, es auch der Grundsatz der Rechtssicherheit, als allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, dass allein auf den Zeitpunkt der Antragstellung abzustellen sei.
Es dürfe für eine antragstellende Person nicht „völlig unvorhersehbar“ sein, ob ein Anspruch (hier: Familiennachzugsanspruch) bestehe oder eben nicht. Der Gerichtshof betonte dabei auch, dass es nicht in der Hand des jeweiligen Mitgliedstaats liegen könne, durch eine Verzögerung in der Bearbeitung von Asylanträgen einen jedenfalls faktischen Einfluss auf die Anwendbarkeit der Richtlinienvorgaben zu nehmen. Dieser Gefahr begegnet der EuGH mit seiner Auslegung, denn nur so könne rechtssicher gewährleistet werden, dass die Mitgliedstaaten keine rechtsmissbräuchliche Verzögerung in den Bearbeitungsvorgängen schüfen. Dies liefe nicht nur dem Ziel dieser Richtlinie, die Familienzusammenführung zu begünstigen und dabei Flüchtlinge, insbesondere unbegleitete Minderjährige, besonders zu schützen, sondern auch den Grundsätzen der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit zuwider.[4]
Eine solche Beeinflussung müsste nicht zwingend unmittelbar bewirkt werden. Vielmehr könnten die Mitgliedstaaten – so der Gerichtshof – durch mangelnde Ressourcenzuweisung für die Behörden und Gerichte, durch die nicht vorrangige Behandlung von Asylanträgen von unbegleiteten Kindern oder auch einfach aufgrund äußerer Umstände daran gehindert sein, ihrer Verpflichtung zum besonderen Schutz der Familieneinheit von unbegleiteten Minderjährigen nachzukommen. [5]
Hierdurch kommt ein Misstrauen des EuGH gegenüber den Mitgliedstaaten und der Behördenfunktionalität zum Vorschein.
Europarechtlich hat der Standpunkt des EuGH die Folge, dass der relevante Zeitpunkt für das Vorliegen der den Familiennachzugsanspruch begründenden Tatsachen so definiert werden muss, dass er der dem Einflussbereich der Mitgliedstaaten gänzlich entzogen ist. Nur so könne sowohl dem Grundsatz der einheitlichen Anwendung des Europarechts als auch dem Gleichheitsgrundsatz sachgerecht Rechnung getragen werden.[6]
Allerdings hat auch der EuGH den von der Antragstellerin vorgetragenen Zeitpunkt der Einreise in den Mitgliedstaat nicht als relevanten Zeitpunkt erachtet.
Vielmehr leitet der Gerichtshof aus der Systematik des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems ab, dass der europarechtliche Anspruch auf den Familiennachzug für (minderjährige) Flüchtlinge nicht bereits mit der Einreise entsteht. Es sei nämlich Anspruchsvoraussetzung für den europarechtlichen Familiennachzugsanspruch, dass der Antragsteller bereits als Flüchtling anerkannt sei. Insoweit lägen bei Einreise noch nicht alle anspruchsbegründenden Tatsachen vor. Auch fehle es zwischen dem Recht auf Familienzusammenführung aus Art. 10 Abst. 3 lit. a der RL 2003/86/EG und der Flüchtlingseigenschaft, deren Zuerkennung die Stellung eines Antrags auf internationalen Schutz durch den Betroffenen voraussetzt, ein innerer Zusammenhang.[7]
Ebenso wenig sei aber– so der EuGH –auf den Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag abzustellen. Erst zu diesem Zeitpunkt läge zwar die Asylstellung vor. Das subjektive, individuelle Recht auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entstehe aber bereits mit der Gesuchstellung. Dies müsse dann auch für den Familiennachzugsanspruch für Flüchtlinge gelten, da dieser ohne Ermessen seitens der mitgliedstaatlichen Behörden nach Anerkennung bestehe.
Der tatsächliche Antragszeitpunkt im Sinne des Europarechts muss dann aber auch – um diesen Grundsatz zu effektuieren – europarechtlich und nicht nach nationalen Maßstäben zu ermitteln sein. [8]
Dies hat auch Auswirkungen auf die deutsche Praxis: Sie ist dahingehend anzupassen, dass in Fällen des umgekehrten Familiennachzugs auf das Alter des Kindes bei der Asylgesuchstellung und Ausstellung des Ankunftsnachweises abzustellen ist, da nur dieser Zeitpunkt von den nationalen Behörden nicht zulasten der asylsuchenden Person einseitig beeinflusst werden kann.
Der Minderjährige muss allerdings, damit der Anspruch besteht, zum Zeitpunkt der Antragstellung unbegleitet sein. Die Familienzusammenführungsrichtlinie soll allerdings gerade einen speziellen stärkeren Schutz für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge bewirken, sodass im Zweifel davon auszugehen sein wird, dass eine Begleitung nicht besteht. [9]
Die Praxis der Behörden hinsichtlich des Erlöschens des Nachzugsanspruchs und des Erlöschens des Aufenthaltsrechts der Eltern bei Erreichen der Volljährigkeit hat sich durch das Urteil des EuGH als europarechtswidrig erwiesen und muss somit entsprechend korrigiert werden.
Auch die Konstellationen in der Vergangenheit, in denen eine zunächst minderjährige Person während des Asylverfahrens volljährig geworden ist und wegen der damals vorherrschenden deutschen Praxis auf einen Familiennachzugsantrag verzichtet hat, könnten im Nachhinein rechtliche Relevanz gewinnen. Die betroffene Person sollte, im Namen von Rechtsgleichheit und Rechtssicherheit so gestellt werden, also ob ihr gerade erst die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre und daher der Nachzugsantrag noch rechtzeitig gestellt werden kann.[10]
Diesen Personen muss demnach, um Einklang mit der neuen EuGH Rechtsprechung zu schaffen, zumindest eine Übergangsfrist zur Beantragung ermöglicht werden. Rechtlich könnte eine Schutzberichtigung aber auch über einen Wiedereinsetzungsantrag in den vorigen Stand oder ein Wiederaufgreifen des Verfahrens erreicht werden.
Durch die Entscheidung hat der EuGH verdeutlicht, dass das Europarecht grundsätzlich Schutzkonform auszulegen ist und nationale Spielräume im Bereich des Flüchtlingsschutzes nur dort kennt, wo eine bestehende Regelung ausdrücklich auf das mitgliedstaatliche Recht verweist. Andernfalls haben sich die Mitgliedstaaten zum Schutz der Schutzberechtigten strikt an den europäischen Vorgaben zu orientieren. Dies dient – so ist es wohl den Ausführungen des EuGH zu entnehmen – auch der Umgehung von Richtlinienvorgaben durch Verzögerungstaktikten innerstaatlicher Behördensysteme. [11]
Hiermit knüpft der EuGH auch an seine bisherige Praxis an, wonach eine grundrechtskonforme und grundrechtssensible Auslegung migrations- und asylrechtlicher Regelungen gefordert ist.
Diese Entwicklung kann als Wegweiser zu einem besonders grundrechtsgeprägten und Migrationsregime in Europa angesehen werden.
Hierin muss auch ein klare Positionierung des EuGH zu einem offenen Migrationspolitik der besonderen Unterstützung Schutzbedürftiger gesehen werden, die sich in Kontrast stellt zu dem Trend hin zu Anspruchseinschränkungen für international schutzberechtigte Personen, der sich nicht nur in Deutschland, sondern in vielen nationalen Debatten in den europäischen Mitgliedstaaten und in den Diskussionen um die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems zeigt.
[1] EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[2] BVerwG, Urt. v. 18. 4. 2013 – 10 C 9/12.
[3] Zum Sachverhalt vgl. Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[4] EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[5] EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[6] Vgl. Hruschka, NVwZ 2018, 1451.
[7] EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[8] EuGH, Urt. v. 12.4.2018 – C-550/16, NVwZ 2018, 1463.
[9] Hruschka, NVwZ 2018, 1451.
[10] Hruschka, NVwZ 2018, 1451.
[11] Hruschka, NVwZ 2018, 1451.