Das EU-Diskriminierungsrecht als Wächter des Arbeitsrechts

Der EuGH bestätigt Schutz vor mittelbarer Diskriminierung pflegender Angehöriger von beeinträchtigten Kindern

02.10.2025

Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 11. September 2025 (Az. C-38/24) die Rechte der Arbeitnehmer gestärkt und ausdrücklich klargestellt, dass Arbeitgeber verpflichtet sind - in den Grenzen der Angemessenheit - Vorkehrungen auch für solche Arbeitnehmer zu treffen, die nicht selbst beeinträchtigt sind, jedoch Teilhabe und Versorgung für ein beein-trächtigtes Kind leisten.

Hintergrund 

Eine in Italien als Stationsaufsicht beschäftigte Mutter forderte von ihrem Arbeitgeber dauerhaft an einem Arbeitsplatz mit festen Arbeitszeiten eingesetzt zu werden, um sich um ihren schwerbehinderten, vollinvaliden minderjährigen Sohn kümmern zu können. Der Arbeitgeber gewährte ihr vorübergehend Erleichterungen, eine dauerhafte Anpassung wurde jedoch abgelehnt. Die Arbeitnehmerin erhob daraufhin Klage und durchlief den Instanzenzug bis zum höchsten italienischen Gericht (Corte suprema di cassazione), das die Frage einer Diskriminierung dem EuGH vorlegte. 

Im Mittelpunkt steht die Frage, ob die EU-Richtlinie über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf (Richtlinie 2000/78) auch vor einer mittelbaren Diskriminierung der Eltern eines beeinträchtigten Kindes schützt, die nicht selbst beeinträchtigt sind, sondern mittelbar im Zusammenhang mit der Pflegeunterstützung des Kindes diskriminiert werden. 

Entscheidung

Der EuGH stellte nunmehr klar, dass das Diskriminierungsverbot der EU-Richtlinie 2000/78 in Verbindung mit der Charta der Grundrechte der Union auch pflegende Angehörige schützt, die nicht selbst pflegebedürftig sind. Das Diskriminierungsverbot gelte nicht nur für unmittelbare Diskriminierungen, sondern  auch für mittelbare „Mitdiskriminierung[en]“, beispielsweise, wenn scheinbar neutrale Regelungen Menschen benachteiligen, die wegen ihrer Pflegeverantwortung bestimmte Anforderungen nicht erfüllen können. Das Verbot der "Mitdiskriminierung" hatte der EuGH bereits in einer Entscheidung im Jahr 2008 aufgegriffen und nunmehr nochmals untermauert. 

Wenn ein Arbeitnehmer durch Pflege und Unterstützung seines beeinträchtigten Kindes dessen Teilhabe und Versorgung sicherstellt, können Arbeitszeitmodelle, Arbeitsort oder Einsatzplanung an diese Situation anzupassen sein. Diese Verpflichtung leitet der EuGH aus Art. 5 der Richtlinie 2000/78 ab, ausgelegt im Lichte der EU-Grundrechtecharta und des UN-Behindertenrechtsübereinkommens. Angemessene Vorkehrungen können beispielsweise eine reduzierte Arbeitszeit oder die Versetzung an einen geeigneten Arbeitsplatz sein, sofern dies keine unverhältnismäßige Belastung für den Arbeitgeber darstellt. Der EuGH betont, dass ohne solche Maßnahmen das Diskriminierungsverbot wirkungslos bleiben würde.

Ausblick 

Die Entscheidung des EuGH bestärkt die Rechte von Angehörigen beeinträchtigter Menschen im Berufsleben und verpflichtet Arbeitgeber auch deren besondere Lebensrealitäten in ihre Personalpolitik einzubeziehen. Eltern, die beeinträchtigte Kinder betreuen, haben einen rechtlichen Anspruch gegen ihren Arbeitgeber insoweit, dass die Arbeitsbedingungen verträglich ausgestaltet werden, so dass die Eltern Kinderbetreuung und Arbeit vereinbaren können. 

Das Urteil des EuGH schlägt zwar nicht unmittelbare auf den in Italien geführten Rechtsstreit durch. Das dortige Gericht muss jedoch die Entscheidung berücksichtigen und wird nun zu prüfen haben, ob die dauerhafte Anpassung der Arbeitszeit der Mutter für den Arbeitgeber verhältnismäßig ist.