In diesem Aufsatz analysieren wir die aktuelle europäische Gesetzgebung zum Bürokratieabbau und bewerten diese vor dem Hintergrund der Funktionsweise des EU-Sekundärrechts. Lesen Sie dazu mehr.
Die Europäische Union (EU) steht seit Jahren in der Kritik, zu bürokratisch zu agieren und sich damit selbst zu schaden. Besonders Unternehmen, aber auch Bürgerinnen und Bürger, beklagen die wachsende Komplexität von EU-Vorgaben, die oftmals als hinderlich für wirtschaftliche Innovation und unternehmerische Freiheit empfunden werden. Die Europäische Kommission hat daher den Bürokratieabbau als strategisches Ziel festgelegt. Mit Programmen wie „REFIT“ (Regulatory Fitness and Performance) und aktuellen Gesetzesinitiativen zur Entlastung kleiner und mittlerer Unternehmen soll eine Entschlackung des europäischen Rechtsrahmens erfolgen.
Zugleich stellt sich die Frage, inwiefern der Aufbau und die rechtliche Wirkung von EURechtsakten – insbesondere von Verordnungen und Richtlinien – strukturell zu Bürokratie führen oder diese reduzieren können. Der vorliegende Aufsatz analysiert die aktuelle europäische Gesetzgebungspolitik zum Bürokratieabbau und bewertet diese vor dem Hintergrund der Funktionsweise des EU-Sekundärrechts.
Bereits seit den 2000er-Jahren setzt die EU mit Programmen wie „Better Regulation“ und „REFIT“ auf eine evidenzbasierte Regulierung. Unter Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wurde 2020 das Ziel ausgegeben, den Verwaltungsaufwand für Unternehmen um 25 % zu senken. Ergänzend wurden Instrumente wie der „One-In-One-Out“- Mechanismus diskutiert, der verlangt, dass bei Einführung neuer Berichtspflichten bestehende Verpflichtungen in gleichem Umfang abgebaut werden.
Aktuelle Beispiele für Bürokratieabbau-Initiativen umfassen:
Verordnungen gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV sind in allen Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie entfalten unmittelbare Wirkung, ohne dass sie in nationales Recht umgesetzt werden müssen. Dies kann zum Bürokratieabbau beitragen, da nationale Umsetzungsakte entfallen.
Allerdings sind Verordnungen oftmals sehr detailliert geregelt, was ihre Anwendung komplex machen kann. Ein Beispiel ist die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO), die zwar Rechtsvereinheitlichung brachte, aber auch erhebliche neue Dokumentations- und Informationspflichten für Unternehmen schuf.
Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Ziels, lassen ihnen aber die Wahl der Form und Mittel (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Diese Flexibilität führt jedoch dazu, dass Mitgliedstaaten Richtlinien unterschiedlich umsetzen und oft zusätzliche Anforderungen („Gold-Plating“) einführen.
So führte etwa die Umsetzung der Verbraucherschutzrichtlinie (2011/83/EU) in einigen Mitgliedstaaten zu überbordenden Informationspflichten für Online-Händler, die über den Richtlinienrahmen hinausgingen.
Die Mitgliedstaaten stehen unter Spannung: Einerseits haben sie die Pflicht zur fristgerechten und korrekten Umsetzung von Richtlinien, andererseits versuchen sie, nationale Interessen und Verwaltungsgepflogenheiten zu berücksichtigen. Diese Spannung führt häufig zu komplexen, bürokratisch überladenen Umsetzungen europäischer Vorgaben.
Gleichzeitig besteht im europäischen Gesetzgebungsprozess häufig die Tendenz, „politisch sichere“ Lösungen mit vielen Ausnahmetatbeständen zu schaffen, um Konsens zwischen den Mitgliedstaaten zu erzielen. Das Ergebnis sind rechtlich komplexe Normen, die in der Anwendung zusätzlichen Verwaltungsaufwand verursachen.
Die Digitalisierung administrativer Prozesse auf EU-Ebene – etwa im Zollwesen oder bei öffentlichen Ausschreibungen – zeigt erste Erfolge in der Vereinfachung. Auch die verstärkte Nutzung von Verordnungen mit direkt anwendbaren Regelungen kann – bei sorgfältiger Ausgestaltung – Vereinheitlichung und Entlastung bringen.
Zudem wurden im Rahmen von REFIT mehrere Rechtsakte aufgehoben oder verschlankt, z. B. im Bereich der Chemikalienkennzeichnung oder der Lebensmittelinformation.
Viele der bisherigen Maßnahmen betreffen lediglich technische Details oder einzelne Sektoren. Der strukturelle Einfluss des EU-Rechts – etwa durch übermäßige Regulierungstiefe oder mangelnde Praxistauglichkeit – wird nicht grundsätzlich adressiert. Auch fehlt häufig eine systematische Überprüfung der Bürokratiekosten neuer Vorhaben („Bürokratie-Folgenabschätzung“).
Zudem bleibt der Einfluss der Mitgliedstaaten durch Gold-Plating ein ungelöstes Problem, das auf europäischer Ebene nur bedingt gesteuert werden kann.
Ein effektiver Bürokratieabbau in Europa erfordert strukturelle Reformen:
Im September 2024 legte Mario Draghi, ehemaliger Präsident der Europäischen Zentralbank, seinen umfassenden Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit vor. Der Bericht diagnostiziert tiefgreifende strukturelle Schwächen der EU, darunter stagnierende Produktivität, Innovationsdefizite und regulatorische Fragmentierung. Draghi betont, dass übermäßige Bürokratie und komplexe Regulierungen zentrale Hemmnisse für wirtschaftliches Wachstum darstellen und fordert daher einen gezielten Abbau administrativer Hürden.
Ein zentrales Anliegen des Berichts ist die Harmonisierung und Vereinfachung von EUVorschriften, um die Skaleneffekte des Binnenmarkts besser zu nutzen. Draghi schlägt vor, regulatorische Prozesse zu straffen und die Anzahl der Berichtspflichten zu reduzieren, insbesondere für kleine und mittlere Unternehmen. Dies soll nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit stärken, sondern auch die Innovationskraft fördern.
Im Februar 2025 präsentierte die Europäische Kommission zwei sogenannte OmnibusPakete mit dem Ziel, die regulatorische Belastung für Unternehmen signifikant zu reduzieren. Diese Pakete beinhalten unter anderem:
Diese Maßnahmen zielen darauf ab, die administrative Last zu verringern und gleichzeitig die Ziele der Nachhaltigkeit und des fairen Wettbewerbs zu wahren.
Die Integration der Empfehlungen des Draghi-Berichts in konkrete legislative Maßnahmen wie die Omnibus-Pakete signalisiert einen Paradigmenwechsel in der EU-Politik: weg von übermäßiger Regulierung hin zu einer schlankeren, effizienteren Gesetzgebung. Dies könnte nicht nur die Wettbewerbsfähigkeit der EU stärken, sondern auch das Vertrauen von Unternehmen und Bürgern in die europäischen Institutionen erhöhen.
Gleichzeitig bleibt die Herausforderung bestehen, einen Ausgleich zwischen Deregulierung und dem Schutz sozialer sowie ökologischer Standards zu finden. Eine kontinuierliche Evaluierung der Auswirkungen der neuen Maßnahmen ist daher unerlässlich.
Der geplante Bürokratieabbau in Europa ist ein politisch wie juristisch anspruchsvolles Vorhaben an der Schnittstelle zwischen europäischem und nationalem Recht. Während Instrumente wie REFIT und die Digitalisierung wichtige Beiträge leisten, bleibt der strukturelle Einfluss der rechtlichen Gestaltung von Verordnungen und Richtlinien zentral. Nur durch eine differenzierte, strategisch abgestimmte Regulierung mit klarer Kompetenzverteilung kann die Europäische Union das Ziel eines effektiveren, bürgernäheren und wirtschaftsfreundlicheren Rechtssystems erreichen.