Bosnien und Herzegowina ist als vorletztes Land der Westbalkan-Region in den Kreis der EU-Beitrittskandidaten aufgestiegen. Viele halten die Entscheidung der EU zum beschleunigten Aufnahmeprozess für eine direkte Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine.
Im Rahmen der digitalen Europa-Sprechstunde stellte sich der Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft Christian Schmidt den Fragen des Publikums. Er wurde 2021 berufen und war zuvor als Bundeslandwirtschaftsminister tätig.
Durch den Abend führte Prof. Dr. Zeljana Tunić, Professorin für Slawistik an der Universität Halle Wittenberg. Sie forscht vor allem zu Erinnerungskulturen in Postkonfliktgesellschaften in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens – und brachte so viel Expertise in die Unterhaltung.
Nicht nur durch ihre Aktualität schien die Situation in Bosnien und Herzegowina ein großes öffentliches Interesse zu generieren, 98 Besucher:innen schalteten sich an dem Freitagabend ein.
Christian Schmidt, selbst langjähriges Mitglied in der Europa Union, beschrieb die verhandelte Integration Bosnien und Herzegowinas in die Europäische Union als Friedensbotschaft, auch innenpolitisch. Er erhoffe sich, dass diese Bedeutung der Herabsetzung von Grenzen durch Zusammenarbeit sich auch auf die ethnischen und politischen Differenzen innerhalb des Landes positiv auswirken werden. Sarajevo bildet den Mittelpunkt der zwei autonomen Entitäten – zum einen die Bosnisch-Kroatische Föderation, zum anderen die Serbische Republik. Zwar wurde durch den 1995 unterschrieben Dayton-Vertrag ein Waffenstillstand auf dem Papier beschlossen – doch Schmidt sieht weiterhin große Diskriminierungs – und Gewaltrealitäten in der Gesellschaft, vor allem geprägt durch das Kriegstrauma, dass die Zivilgesellschaft durch viele Jahre des Konfliktes weiterhin prägt.
Die Verfassung Bosniens und Herzegowinas, die sich unmittelbar aus dem Dayton-Vertrag ableitet, weist einige Defizite auf, findet auch Schmidt. Er wünscht sich für das kommende Jahr eine wachsende Reformdynamik für das Land. Seine eigene Rolle des Hohen Repräsentanten begreift er eher als Bewahrer des Friedens und wünscht sich: „Ich hoffe, mein Amt wird irgendwann überflüssig!“
Die Verfassungsänderungen müssten innerhalb Bosnien und Herzegowinas stattfinden, ohne äußere politische Einflüsse. Schmidt blickt hier vor allem auf die neue Generation des Landes. Er sieht großes Potenzial in einer gemeinsamen Bildung der kommenden Generationen – momentan existieren noch drei verschiedene Lehrpläne, die sich in Sprache, Geografie und Historie unterscheiden. Der Arbeitsmarkt müsse wieder attraktiver für junge Menschen werden, um so den momentan stattfindenden Brain Drain in Zukunft zu minimieren. Auch hier sieht Schmidt vor allem die fortwährenden ethnischen Konflikte als große Hürde. Trotzdem setzt er große Hoffnungen in die kürzlich gewählte neue Regierung, die die europäische Integration als Priorität in ihrem Regierungsprogramm verankert hat.
Das Publikum bat auch um eine Einschätzung der Situation gegenüber dem amtierenden Präsidenten der Republika Srpska Milorad Dodik, der in den vergangenen Wochen vermehrt durch starke Annäherungen an Wladimir Putins Politik auffällt. Zuletzt verlieh er dem russischen Präsidenten am 9. Januar sogar einen Orden. Viele sehen das als schwerwiegende Provokation gegenüber der Internationalen Gemeinschaft und blicken nun auf die Reaktion Christian Schmidts. Dieser sieht die anhaltenden Provokationen als politisches Instrument und stellt klar, dass Dodik weiterhin in der Lage sei, für Unruhe und Disfunktionalität zu sorgen. Er kritisiert die Reaktionspolitik der EU bezüglich der Provokationen und wünscht sich eine klarere Kante gegenüber Dodik.
Für die kommende Zeit wünsche er sich, dass die Zivilgesellschaft Bosnien und Herzegowinas lerne, mehr Vertrauen in die eigene Regierung zu haben. Dafür sei die Integration in die Europäische Union besonders wichtig. Christian Schmidt positioniert sich klar für den Schritt der Integration und schließt die Veranstaltung mit den Worten: „Wir wollen nach Europa und wir gehören nach Europa!“