Wie viel Europa steckt in der Ampelkoalition? Ein Blick in den Koalitionsvertrag

Ein Beitrag von Brian Hagiel

14.07.2022

Aus der im September 2021 stattgefundenen Bundestagswahl bildete sich eine Regierung aus SPD, GRÜNEN und FDP. Welche Stellenwert nehmen die EU und Europa im Koalitionsvertrag dieser neu geschlossenen Allianz ein?

Einleitung

Die geplante Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat ihren Koalitionsvertrag vorgestellt. Auch das künftige Kabinett steht inzwischen fest. Aber was kann Europa von einem sozialdemokratischen Kanzler Olaf Scholz, einer grünen Außenministerin Annalena Baerbock und einem liberalen Finanzminister Christian Lindner erwarten? Ein Blick in den Koalitionsvertrag zeigt: ziemlich viel.

Zukunft der EU

Die Kernaussage des Vertrages lautet: „Die Konferenz [zur Zukunft Europas] sollte in einen verfassungsgebenden Konvent münden und zur Weiterentwicklung zu einem föderalen europäischen Bundesstaat führen, der dezentral auch nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit organisiert ist und die Grundrechtecharta zur Grundlage hat“. Die Koalitionspartner setzen sich also für einen europäischen Bundesstaat ein, wie er seit 1946 gefordert wird. Hierfür soll zum einen das Europäische Parlament gestärkt werden (z. B. beim Initiativrecht) und zum anderen soll der Gemeinschaftsmethode wieder Vorrang gegeben werden. Zudem soll die Arbeit des Rates transparenter werden, indem Kommissionsvorschläge im Rahmen einer gesetzten Frist öffentlich im Rat debattiert werden. Im Hinblick auf die nächste Europawahl im Jahr 2024 sprechen sich die Regierungsparteien für ein einheitliches europäisches Wahlrecht mit teils transnationalen Listen und einem verbindlichen Spitzenkandidat*innensystem aus. „Wenn bis zum Sommer 2022 kein neuer Direktwahlakt vorliegt, wird Deutschland dem Direktwahlakt aus 2018 auf Grundlage eines Regierungsentwurfes zustimmen“, heißt es dazu im Koalitionsvertrag.

Rechtsstaatlichkeit

Die drei Parteien fordern die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge dazu auf, die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente, insbesondere auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), via Artikel 260 und 279 des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union, konsequenter und zeitnah zu nutzen und durchzusetzen. Gleichzeitig sollen die bestehenden Rechtsstaatsinstrumente, wie etwa der Rechtsstaatsdialog, der Rechtsstaatscheck oder das vertragsverletzungsverfahren konsequenter durchgesetzt und weiterentwickelt werden. Zudem machen die Parteien deutlich, dass sie die EU-Kommission bei der Weiterentwicklung des Rechtsstaatsberichts durch länderspezifische Empfehlungen unterstützen und den Prozess mit unabhängiger Expertise weiter stärken wollen.

Wirtschafts- und Finanzpolitik

Die Wirtschafts- und Währungsunion soll vertieft und gestärkt werden. Auf Grundlage des Stabalitäts- und Wachstumspakts (SWP) wollen SPD, Grüne und FDP „Wachstum sicherstellen, die Schuldentragfähigkeit erhalten und für nachhaltige und klimafreundliche Investitionen sorgen“. Mit dem europäischen Wiederaufbauprogramm soll zudem ein schneller und zukunftsgerichteter Aufschwung nach der Krise in ganz Europa gelingen. Nach Ansicht der drei Parteien sind eine europäische digitale Infrastruktur, ein gemeinsames Eisenbahnnetz, eine Energieinfrastruktur für erneuerbaren Strom und Wasserstoff sowie Forschung und Entwicklung auf dem Niveau der Weltspitze Voraussetzungen für die europäische Handlungsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit im 21. Jahrhundert. Sie beabsichtigen daher die Initiative zu ergreifen und mit den europäischen Partnern eine Investitionsoffensive anzustoßen, „die sich auf transnationale Projekte mit einem Mehrwert für die EU als Ganzes fokussiert sowie dem Lückenschluss von Netzen eine besondere Bedeutung zumisst.“ Dabei soll sowohl öffentliches als auch privates Kapital eine Rolle spielen.

Innerhalb der EU soll zudem Geldwäsche künftig effektiver bekämpft werden. Zu diesem Zweck soll eine unabhängige EU-Geldwäschebehörde mit Sitz in Frankfurt am Main eingerichtet werden.

 

Soziales Europa

Zum Thema „soziales Europa“ sieht der Koalitionsvertrag vor: „Wir wollen die Menschen darin unterstützen, die immensen Herausforderungen der bevorstehenden Transformation und den Wandel selbstbestimmt zu gestalten.“ Hierfür soll EU-weit die soziale Aufwärtskonvergenz befördert, der Binnenmarkt vervollständigt, die Säule sozialer Rechte umgesetzt und soziale Ungleichheiten bekämpft werden. Ferner soll die Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern europaweit verringert werden, indem eine EU-Richtlinie für Lohntransparent unterstütz wird.

Europäische Außen- und Sicherheitspolitik

Um das Ziel einer souveränen EU als starken Akteur in einer von Unsicherheit und Systemkonkurrenz geprägten Welt zu erreichen, setzen sich die drei Parteien für eine echte gemeinsame Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ein. Der Hohe Vertreter soll dabei als echter EU-Außenminister agieren. Außerdem sollen die nationalen Armeen integrationsbereiter EU-Mitglieder verstärkt zusammenarbeiten, insbesondere bei „Ausbildung, Fähigkeiten, Einsätzen und Ausrüstung“. Ferner sollen gemeinsame Kommandostrukturen und ein gemeinsames militärisches Hauptquartier geschaffen sowie die rüstungstechnische Zusammenarbeit in Europa gestärkt werden.

Europäische Partner

Die Ampel-Regierung äußert sich im Koalitionsvertrag auch zum Beitrittsverfahren der sechs Westbalkanstaaten Serbien, Montenegro, Kosovo, Albanien, Nordmazedonien und Bosnien-Herzegowina. Im Einzelnen heißt es hierzu: „Wir unterstützen den EU-Beitrittsprozess der sechs Staaten der Westbalkanregion und die hierfür notwendigen Reformen zur Erfüllung aller Kopenhagener Kriterien. In diesem Rahmen stärken wir die Zivilgesellschaft und unterstützen weitere Heranführungsschritte.“ Hierfür müssten die ersten EU-Beitrittskapitel mit Albanien und Nordmazedonien eröffnet, die Visaliberalisierung mit Kosovo beschlossen und die die Verhandlungen mit Montenegro und Serbien fortgesetzt werden. Die Parteien unterstützen zudem den EU-geführten Normalisierungsdialog zwischen Kosovo und Serbien und die Bemühungen um dauerhaften Frieden in Bosnien und Herzegowina. Gegenüber dem Vereinigten Königreich bekennen sich die Parteien zu einer gemeinsamen europäischen Politik und einer engen bilateralen Zusammenarbeit. Sie bestehen auf die vollständige Einhaltung der beschlossenen Abkommen, insbesondere bezüglich des Nordirlandprotokoll und des Karfreitagsabkommen. Bei Nicht-Einhaltung der vereinbarten Standards und Verfahren setzen die Parteien auf eine konsequente Anwendung aller vereinbarten Maßnahmen und Gegenmaßnahmen.

Fazit

Der Blick in den Koalitionsvertrag verdeutlicht, dass die neue Regierung europapolitisch extrem ambitioniert ist. Entsprechend beeindruckt zeigt sich auch die internationale Presse. Die spanische Tageszeitung „El Pais“ schreibt etwa, dass Deutschland den „europäischen Gedanken am Beispiel seiner Sozial-, Gleichstellungs-, Umwelt- und Digitalpolitik beispielhaft leben“ werde. Die niederländische Abendzeitung „NRC Handelsblad“ stellte sogar fest, dass Deutschland in vier Jahren ein anderes Land sein werden, wenn es den drei Parteien gelingen sollte, „ihr Programm im Kern umzusetzen“. Wie bei allen anderen Koalitionsverträgen zuvor auch, dürfte genau das der entscheidende Punkt sein: Den Worten müssen Taten folgen. Ob oder wann das der Fall sein wird, wird die Zukunft zeigen. Wir dürfen gespannt sein.

Den Koalitionsvertrag finden Sie unter: https://www.tagesspiegel.de/downloads/27829944/1/koalitionsvertrag-ampel-2021-2025.pdf

Die Reaktionen der internationalen Presse: https://www.eurotopics.net/de/272104/was-europa-vom-ampel-kabinett-erwartet?pk_campaign=et2021-11-26-de&pk_kwd=272104